Und dann kam der Tag, den man auch Saisonabschluss nannte. Ein letztes Mal Europapark für diese Saison. Ein letztes Mal Arena, ein letztes Mal Vito. Natürlich würde er noch nicht gleich heute gehen, doch Morgenmittag war es soweit.
Sämtliche Mitarbeiter waren gut drauf und die Stimmung im Park war bombastisch. Hier und da wurde schon aufgeräumt, doch ich wusste, das meiste würde man in den nächsten zwei Wochen machen.
Die letzten Shows waren so viel anders als normal. Wir durften nämlich das machen, was wir wollten. Und viele Darsteller nutzten das aus. In manchen Shows trugen zum Beispiel die Frauen die Männerkostüme und die Männer trugen die Kleider der Frauen. Es war urkomisch. Auch an den Attraktionen wurde mehr gelacht, als ernsthaft gearbeitet.
Ich fuhr noch ein letztes Mal, zusammen mit Eliza, unsere Lieblingsbahnen und so pendelten wir am Morgen zwischen Silverstar und Geisterbahn hin und her.
Am Nachmittag war es dann soweit. Zusammen mit Louisa malte ich wieder Blacos als Skelett an, damit die Zuschauer ein bisschen was zum Lachen hatten. Danach setzte ich mich zusammen mit Chris in das Publikum, denn er konnte ebenfalls nicht mitreiten, da er gestern unglücklich bei einem Stunt gefallen war und jetzt auch humpelte. So setzten wir uns pünktlich zu Beginn der Show in die Arena. Wir nahmen einen Platz in der Nähe des Thrones. Chris hatte noch eine Tube Schlagsahne dabei. Wofür, das wusste ich noch nicht.
Dann begann es. Am Anfang war noch alles wie immer.
"Am 18. August 1651 gelang es Kardinal Richelieu den König von Frankreich zu überreden, die Papiere zur Auflösung der Garde der Musketiere zu unterschreiben. Unsere Freunde Arthos, Porthos, Aramis und D'Artagnan wurden zurück in ihre Heimatdörfer geschickt." Die Erzählstimme endete und Planchette betrat die Arena. Stéphane hatte es sich nicht nehmen lassen, die letzte Show selbst zu spielen. Wie auf Kommando begannen alle zu jubeln und Planchette freute sich sehr, weshalb sie nicht wieder hinter dem Vorhang verschwand.
Sie richtete ein wenig die Tische in ihrem "Kebab" und dann kam auch schon Porthos, alias Denis Jaquillard, hinein.
"Planchette! Wie geht es dir?", rief er auf Deutsch mit seinem heftigen, französischen Akzent. Anschließend begrüßte er noch das Publikum und lief dann zu Stéph. "Weißt du was? Ich bin im Ruhestand!", verkündete er und die "Dame" sah ihn fragend an. "Oh, warum?" "Die Einheit der Musketiere ist aufgelöst, vorbei, fertig!" Die zwei unterhielten sich noch ein wenig, doch es war nichts Außergewöhnliches. Nicht einmal als die Musketiere kamen und die Anhänger des Kardinals sie provozierten. Der Kampf anschließend war auch gewöhnlich.
Es wurde erst neu, als Marion und Ludo auf dem Thron saßen und die Hexe das Gift brachte, womit Marion als Milady, den Herzog von Buckingham umbringen sollte. Heute war es eine größere Flasche als normal und sie taten so, als wöge die Flasche etliche Kilo, was mich zum Kichern brachte.
Planchette hörte den Plan mit, gab ihn an Porthos weiter und der rief die Musketiere. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, als ich sah, dass sie unter ihrem Überwurf nichts anhatten. Normalerweise hatten sie immer ein weißes Hemd darunter. Die Antwort wurde mir geliefert, als kurz darauf das Trickreiten stattfand.
Marion zog alles noch normal durch, doch Guillaume, Julien und Kevin taten dies nicht. Ich bekam einen Lachanfall, als ich sah, dass sie komplett oben ohne das Trickreiten durchführten. Zumal sie ja nicht einmal sichtbare Muskeln hatten, sah das urkomisch aus. Chris neben mir grinste. "Kann ich froh sein, dass ich das nicht mitmachen muss.", meinte er nur. "Ach was, das käme bestimmt gut. Marion hätte sich gefreut.", lachte ich und widmete mich wieder dem Spektakel.
Leicht bekleidet waren nicht nur die Musketiere, wie ich später feststellte. Auch Ludo hatte kein Oberteil unter seinem Kardinalsanzug, worüber sich Planchette sehr freute, welche übrigens keine Hose unter dem Rock anhatte. Das waren Aussichten, die dem gesamten Publikum Lachtränen in die Augen trieben.
Später erfuhr ich dann auch, wofür die Sahne war. Chris stand auf und brachte sie Marion, als sie ihren Endkampf auf dem Thron führte. Guillaume kämpfte gerade gegen sie, als sie ihre letzte Waffe einsetzte. Obwohl sie schon gefangen wurde, sprühte sie Guillaume die gesamte Sahne ins Gesicht.
Es war viel zu lustig, um ernst genommen zu werden.
Nach der Show ging ich mit Chris wieder in den Backstagebereich. Ich half Marion noch kurz ihren Braunen zu versorgen und ging dann in die Umkleide, in der uns auch die ganze restliche Gruppe schon erwartete. Irgendjemand hatte Sekt mitgebracht und jeder, der den Raum betrat, bekam ein Glas in die Hand gedrückt. Ich war definitiv kein Fan von Sekt, doch ich trank ein Glas mit.
Anschließend feierten sie noch ein Bisschen, doch ich verzog mich zu Vito. Der Falbe fraß in Ruhe sein Heu. "Morgen gehst du zu Mario.", erklärte ich ihm. "Ich weiß.", murmelte er nur traurig. "Was soll ich ohne dich nur machen?", meinte ich leise. "Weiterleben. Wir sehen uns ja wieder.", sagte er trocken. "Lass uns noch ein letztes Mal raus.", schlug er schließlich vor. Seit dem Unfall waren wir nicht mehr draußen gewesen und ich hatte ehrlich gesagt auch ein wenig Angst.
Vito spürte dies. "Komm schon, Hanna. Schwing dich rauf. Die Sonne geht gerade unter, das ist die schönste Zeit des Tages!", versuchte er mich zu überreden. "Ich darf doch gar nicht!", versuchte ich ihm zu widersprechen. "Hat dich das jemals daran gehindert, das zu tun, wofür du bestimmt bist?", fragte er zurück. Lächelnd umarmte ich ihn und er legte sich für mich nieder, damit ich mein Bein nicht unnötig belasten musste.
Anschließend trottete er vom Hof. Schweigend genoss ich diesen Moment, während sich mein Pferd selbstständig einen Weg suchte.
Ich dachte einige Monate zurück. Ein völlig verstörter Hengst, der kein Vertrauen besaß, mich als Hexe bezeichnete und Menschen gegenüber unglaublich misstrauisch war. Jetzt saß ich hier, in der Abendsonne auf ihm, völlig frei. Er trug weder Sattel noch Trense. Seine neue Trense hatte das Unwetter nicht überlebt. Durch den heftigen Regen und den Schlamm war sie vollkommen verschlissen. Ich hatte sie wegwerfen müssen.
Unsere Entwicklung war vielleicht nicht normal verlaufen, doch waren wir jemals normal gewesen? Ich, ein Freak, der mit Pferden reden konnte und mein Seelenverwandter. Ein Hengst, der mir blind vertraute und alles für mich tat. Mir vielleicht sogar das Leben gerettet hatte. Er meinte selbst, dass wir jetzt Quitt seien. Vielleicht hatte ich, seiner Meinung nach, auch sein Leben gerettet. Wo wäre er gelandet, wenn er mich nicht getroffen hätte? Unser Zusammentreffen hatte unser beider Leben vollkommen verändert und ich war so froh, den Falben kennengelernt zu haben. So einen Hengst traf man nicht oft an.
Jetzt, da dieser Sommer vorbei war, konnte ich sagen. Es war der schönste Sommer in meinem gesamten, bisherigen Leben gewesen. So viele neue und verschiedene Leute hatte ich kennengelernt, neue Freunde gefunden und das erste Mal so richtig das Gefühl gehabt, dass meine Gabe eine Verwendung hatte. Dass ich nicht nutzlos war.
Jetzt war ich nicht mehr als die Tochter des Züchters Fernay bekannt. Jetzt war ich Hanna, die Pferdetrainerin.
Dieser Sommer hatte mein Leben auch so stark verändert: Vollmond gewann eine neue Bedeutung und vielleicht war ich auch reifer geworden, durch das Training in körperlicher Hinsicht aber auch in seelischer.
Es war ein Sommer voller Höhen und Tiefen gewesen. Von emotionalen Tiefpunkt bis hin zum unendlichen glücklich-sein, war alles dabei. Das hatte meinen Horizont erweitert. Vielleicht hatte ich vorher nicht gewusst, was es wirklich bedeutet, wenn man glaubt, jemanden für immer verloren zu haben. Vielleicht hatte ich nicht gewusst, was es bedeutet, am Ziel angekommen zu sein, glücklich zu sein und vor allem, was Freiheit wirklich ist.
"Denke nicht so viel nach, Hanna.", riss mich mein Falbe plötzlich aus den Gedanken.
"Weißt du, dass ich dich unendlich lieb habe?", fragte ich ihn leise. Liebevoll drehte er den Kopf. "Nicht so sehr, wie ich dich in meinem Leben brauche.", gab er sanft zurück.
Glücklich umarmte ich ihn kurz. "Wenn ich aber schon reite, dann lass uns wenigstens galoppieren.", lächelte ich. "Halt dich fest.", sagte Vito nur sanft. Dann galoppierte er an. Und während ich unter mir die kräftigen Muskeln spürte, kamen wir dem Horizont immer näher.
DU LIEST GERADE
Moondancer - Pferdemädchen
FanficDie Rache der Milady, Arenashow 2013. Eine Geschichte über Pferde, Trickreiten, Mario Luraschis Cavalcade und einem Mädchen, das nicht ganz so normal ist. Ein unvergesslicher Sommer steht Hanna, 17, bevor. Ihr größter Traum beginnt wahr zu werden, a...