twentyfour

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-Anja-

Einen klaren Kopf zu bewahren, wenn gerade alles drunter und drüber ging, war alles andere als leicht. Meine Finger verschlangen sich in einander und bohrten sich in meine Handflächen. Was sollte ich nur tun? Fieberhaft überlegte ich und wünschte mir nicht zum ersten Mal, jemanden zu haben mit dem ich darüber sprechen konnte. Und in Sebastian hatte ich auch jemanden gefunden mit dem ich über alles Erdenkliche reden konnte. Nur über die Walküren durfte ich in seiner Gegenwart kein Wort verlieren. Und deswegen konnte ich ihn auch jetzt nicht aufsuchen und um seinen Rat beten oder auch einfach nur, dass er mir zu hörte. Aufseufzend versuchte ich einen Plan zu entwickeln. Mein Blick schweifte durch die Bibliothek. Die Rechner hier waren nicht der Renner, aber für meine Zwecke hatten sie ausgereicht. An diesen Rechnern musste man sich mit keinen Namen anmelden. Jeder konnte sie benutzten. Eigentlich waren sie nur dafür gedacht, um herauszufinden wo das gesuchte Buch stand. Aber durch Zufall oder auch weniger Zufall, hatte ich herausgefunden, dass sie einen Internetzugang hatten und seitdem nutzte ich sie für meine Recherchen, wenn ich sicher gehen wollte, dass man es nicht auf meine Person zurückverfolgen konnte. Der nächste Vorteil dieser Bibliothek war, dass es nirgendswo Kameras gab, weder hier drin noch draußen. Und wenn ich kein Buch auslieh, konnte niemand sagen, ob ich an besagten Tag hier war oder nicht. Und ich lieh nie ein Buch aus, wenn dann lass ich es hier und machte mir die nötigen Notizen. Somit war ich noch nicht einmal in den System der Bibliothek verzeichnet und nur ein weiteres Gesicht in einer Reihe zahlloser Besucher. Genau das wollte ich.

Als allererstes musste ich nach Wien. Ich musste das Auto selbst sehen, darauf hoffend, dass es noch existierte. Vielleicht konnte ich irgendeine Spur aufnehmen, die den Menschen entgangen war. Immerhin waren meine Sinne wesentlich schärfer als die eines Menschen, da konnte auch die neuste Technologie stellenweise nicht mithalten. Wer auch immer Juliets Kontrahent gewesen war, es musste ein Unsterblicher sein. Ein Mensch hatte gegen uns keine Chance, mochten wir auch noch so klein und zierlich sein. Selbst eine größere Gruppe Menschen musste äußerst geschickt vorgehen und ganz genau unsere Schwachstellen kennen, um überhaupt nur den Funken von Hoffnung haben zu können, eine von uns zu besiegen. Der Gedanke entlockte mir ein zynisches Schmunzeln.

Ein zweites Mal nahm ich das Handy zur Hand, schaltete es wieder an. Ich würde es möglichst bald los werden müssen, aber zuvor musste ich noch einen Anruf tätigen. Langsam sah ich mir die Kontaktliste an und überlegte. Irgendjemanden musste ich Bescheid geben. Juliets Verschwinden könnte eine Falle sein, ein Himmelfahrtskommando. Wer wusste schon wie viel Juliets Kontrahent über sie, womöglich über uns wusste. Vielleicht wollte jemand damit die anderen Walküren aus ihrem Versteck locken... Ich wusste es nicht, aber das Risiko bestand zweifellos und daher musste ich mich bei jemand melden, der über die wichtigsten Sachen informiert war. Zwei spurlos verschwundene Walküren wäre sonst womöglich das Ergebnis. Dann würde eine nächste bei Null anfangen müssen und eventuell das gleiche Schicksal erleiden. Das kam gar nicht in Frage. Für den Fall der Fälle musste eine von uns informiert sein.

„Ja!" schon nach dem zweiten Rufen nahm eine mir zum Glück vertraute Stimme den Anruf entgegen. Ich hatte sie schon so lange nicht mehr gehört, dass mir fast die Tränen vor Erleichterung und Freude in die Augen schossen.

„Ich werde einen Ausflug nach Wien unternehmen." Teilte ich ihr mit sobald ich mich einigermaßen gefasst hatte und bemühte mich um Neutralität.

„Willst du dich dort mit jemanden treffe?" fragte Isabella nach Juliet.

„Nein, unsere gemeinsame Freundin ist leider verhindert!" Isabella schnappte nach Luft. Sie hatte es geahnt und war trotzallem entsetzt. Wusste sie mehr als sie bereit war zu zugeben, dass sie nun so reagierte?

„Was hält sie auf?" Ich fragte mich wie Isabella jetzt aussehen mochte. Sie war mit eine der Größten von uns gewesen mit ihrem knappen ein Meter fünfundsechzig. Ihre Haare waren so schwarz wie meine und hatten ihr bis in die Kniekehlen gereicht. Ich wusste noch wie wir an unseren letzten gemeinsamen Tag alle in einem alten Gut in der Küche gestanden hatten. Eine erdrückende Stille hatte auf uns gelastet, die die vorherigen lauten und chaotischen Tage der Vorbereitung Lügen straften. Wie einige andere Walküren hatte ich auf dem massiven Küchentisch gesessen, die Beine überschlagen und zu Isabella gesehen. Sie war die jüngste Schwester unserer Anführerin und die einzige, die von den ehemals vier Kindern noch übrig war. Als sie den Tod ihrer Schwester spürte, hatte sie sich nur eine Träne und einen Blitz erlaubt ehe sie ihr Haupt hob und die Rolle ihrer Schwester ohne ein Wort der Klage übernahm. Sie hatte zu uns allen noch einmal gesprochen, Hinweise und Anweisungen geben und uns versucht aufzubauen, ob wohl sie selbst noch um ihre Schwester trauerte.

„Sie hatte einen Autounfall." Murmelte ich in den Hörer, als nicht weit von mir ein Kind gefolgt von ihrer Mutter vorbei lief.

„Weißt du wie es dazu kam?" Ich presste die Lippen aufeinander. „Nein, aber die Kriminalpolizei untersucht den Fall schon." Ein Zischen am anderen Ende. Dann Stille. „Ich werde noch heute Nacht aufbrechen."

„Ich habe gehört, dass Glen auch einmal nach Wien möchte. Du solltest ihn fragen, ob er dich begleitet." Auch wenn es noch so nett formuliert war, so war es nichts desto trotz, ein Befehl. Einer der mir alles andere als behagte. „Bist du...?"

„Ja, ich wünsche euch beiden viel Erfolg." Dann wurde die Leitung unterbrochen. Verdutzt sah ich das Handy an und legte es dann weg. Das gefiel mir überhaupt nicht.

Glen war Gloria, die Jüngste von uns. So jung, dass sie noch keinen Beinamen erlangt hatte und meist nur Grashüpfer genannt wurde. Das Mädchen war noch voller Ungeduld, Jugend und Naivität, dass sie einem Grashüpfer gleich unbeschwert durchs Leben sprang. Sie hatte noch in keiner Schlacht gekämpft und noch nicht dieselben Erfahrungen wie die meisten von uns gesammelt. Damals war sie gerade einmal neun Jahre alt gewesen. Seitdem war nicht ganz ein halbes Jahrhundert vergangen. Sie war wirklich verdammt jung und Isabella verlangte von mir, dass ich sie mitnahm. Wie sollte sie mir helfen? Ich wusste noch nicht einmal, ob ihr jemand ihre Fähigkeiten gelehrt und die Legenden unserer Ahninnen erzählt hatte. Würde sie mir nicht ehr eine Last, ein Hindernis als eine Stütze bei meiner Suche sein?

Seufzend suchte ich ihren Kontakt aus. Die Walküre brauchte so lange um abzunehmen, dass ich mir schon Sorgen zu machen begann, dass auch mit ihr etwas geschehen war.

„Anja, ist alles in Ordnung?" rief sie ins Telefon, was mich zu einem verzweifelten Blick an die hohe Stuckdecke der Bibliothek veranlasste. Dieses Kind war noch nicht einmal in der Lage, meinen Namen nicht am Telefon zu verraten. Wie sollte sie in irgendeiner Weise nützlich sein? Wahrscheinlich würde die Juliets Entführer -denn ich hoffte, dass es nur ein Entführer und kein Mörder war, den Gedanken konnte ich einfach nicht ertragen- mit ihrer tapsigen Art warnen, dass wir kamen.

„Glen!" zischte ich ins Telefon.

„Sorry." Murmelte sie nur für einen kurzen Moment verlegen. „Also ist alles in Ordnung mit dir?" fragte sie hartnäckig. Die Kleine schien immer noch ein Herz aus Gold zu haben. Viel zu sanftmütig und weich für diese Welt, verletzbar. Zumindest war es so gewesen als ich sie, dass letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte immer alles vorbehaltlos mit jedem teilen wollen und bereitwillig alles abgegeben ohne auf sich selbst zu achten. Ihr Lachen und das Leuchten in ihren Augen über Kleinigkeiten hatten selbst uns in den trübsten Zeiten ein echtes Lächeln abgerungen. Sie war entzückend gewesen und ich wollte sie nicht mitnehmen. Einerseits wollte ich nicht herausfinden, dass die Welt ihren Charakter verdorben hatte, anderseits wollte ich ihr Leben nicht auf das Spiel setzen und sie mit dem konfrontieren, was auch immer wir bei unserer Suche finden würden. Denn wenn die Welt ihre Seele noch nicht befleckt hatte, würde es diese Reise mit großer Sicherheit tun.

„Mir geht es gut, aber einer Freundin von uns nicht. Ich möchte, dass du mich begleitest."

„Wer ist es? Was ist los?" fragte sie besorgt. „Darüber reden wir später, wenn wir mehr Zeit haben. Mach dich bereit. Es geht in ein paar Stunden los." Ich konnte ihre Aufregung nahezu durch das Telefon vibrieren spüren. Meine Worte schienen sie zu begeistern. So jung und voller Tatendrang, dass sie die Gefahren vollkommen über sah oder als nichtig abtat. Bis jetzt war noch alles ein Abenteuer für sie. Fast beneidete ich sie darum. „Ich schicke dir die Daten unseres Treffpunktes. Bereite dich auf alles Mögliche vor." Ich hoffte, dass sie verstand, dass sie sich bewaffnen sollte, aber ich traute mich nicht frei zusprechen. „Und sei gottverdammt nochmal Pünktlich." Fügte ich dann mürrisch hinzu, bei dem Gedanken was alles schief gehen konnte. Gloria war für mich eine unbekannte Komponente in dem Spiel was mir bevorstand. Ich wusste nicht, was ich von ihr erwarten durfte und was nicht. Ich kam mir schon jetzt wie ein gottverdammter Babysitter vor. Wütend drückte ich den Anruf weg. Meine Nägel hämmerten unablässig auf die Tischplatte, während meine Gedanken Karussell fuhren.

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Ihr solltet euch Gloria gut merken! Die Gute war absolut nicht geplant, hat sich jetzt einfach so hier hinein gedrängelt und ich habe den leisen Verdacht, dass sie auch in Zukunft manchmal ganz schön quer schlagen wird.

[01] TraumtänzerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt