-Anja-
"Und wo gehen wir jetzt als erstes hin?", fragte Gloria neugierig neben mir und wippte auf ihren Füßen aufgeregt vor und zurück. Ihr Tatendrang war nicht zu übersehen und ich tat mich schwer damit nicht erneut die Augen zu verdrehen. Wir hatten den Hauptbahnhof von Wien erreicht."Wie organisieren uns ein Zimmer", antwortete ich ihr kurzangebunden. Eigentlich hätte ich die Haare im Zug färben wollen, aber ich befürchtete, dass dies zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. Eine Toilette war kaputt gewesen. Eine zweite, die für mehr als eine halbe Stunde besetzt gewesen wäre, hätte zweifellos für Aufsehen gesorgt. Außerdem waren die Kabinen wirklich beengend und die Waschbecken zu klein. Deswegen trugen Gloria und ich nun beide Käppis. Ein goldfarbener Ring zierte meine Nase und ein aufwendiges Make-Up ließ meine Augen riesig erscheinen. Dazu trug ich eine ausgebleichte, zerrissene Jeans und ein Oversize-Shirt, welches einen Streifen meines braunen Bauches zeigte. Die roten Haare würden meinen Look vervollständigen. Ich wusste nicht wie dieser Look genannt wurde, aber jedes zweite Teenagermädchen schien so auszusehen und ich wollte schließlich in der Masse untertauchen.
Gloria... nun ja. Sie hatte sich ebenfalls in eine Jeans gezwängt. Wobei gezwängt das passende Wort war. Die Jeans saß wie eine zweite Haut und der dünne Pullover zeichnete sogar ihren Bauchnabel ab, so enganliegend war er. Die blonden Locken hatte ich ihr noch ein wenig wild geflochten, während sie einen fetten schwarzen Liedstrich gezogen hatte. So wie sie aussah, könnte sie genauso gut auf der Schulbank hocken und abends von einem Club zum Nächsten ziehen.
„Ich mag den Look!", hatte sie gesagt, kurz nachdem wir wieder an unseren Plätzen angekommen waren. „Steht mir, oder?" Skeptisch hatte ich sie betrachtet. Es sah schon auf gewisse Weise gut aus. Das Schminken machte mir genauso Spaß wie das Haare machen. Ich liebte es eine neue Person zu kreieren, besonders da wir immer gleichaussahen. Aber dieser Stil trifft nicht meinen Geschmack. Es war ein Mittel zum Zweck. „Geschmackssache.", hatte ich deshalb neutral erwidert.
Gloria hatte genervt geseufzt. „Wie alt bist du eigentlich?"
„Weiß ich nicht.", hatte ich verwirrt gemurmelt, überrascht von dem schlagartigen Themenwechsel.
„Wie du weißt es nicht?" Nun war sie genauso verwirrt gewesen wie ich. Ihre glatte Stirn hatte Falten gehabt und ihre Augen hatten in meinen nach dem Witz an meiner Aussage gesucht.
„Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen.", gestand ich ihr dann. Gloria schnappte sichtlich entsetzt nach Luft. Diese Aussage schien für sie unvorstellbar.
„Aber...", setzte sie an.
„Wir sind da!", hatte ich sie unterbrochen. Ich wollte nicht darüber nachdenken wie alt ich war. Darüber nachzudenken, ließ mich jedes Mal melancholisch werden. Es war nicht immer leicht so alt zu sein. Die Gesellschaft war stets im Wandeln und doch gleich. Die Technik blieb nicht stehen, die Grenzen dessen was Menschen möglich war, wurden immer geringer. Aber der Mensch als Person blieb gleich. Er schien nicht aus seinen Fehlern zulernen, keine Konsequenzen zu ziehen. Sein Gedächtnis war kurz und selbst die Bücher, in denen sie alles notierten, schienen nicht als Erinnerungsstützen zu reichen. Jeder Krieg hatte den gleichen Ursprung. Gier nach Macht, Ruhm und Anerkennung. Um der Liebe Willen oder auch aus Eifersucht. Aus einem Missverständnis heraus... es war ermüdend. Ebenso wie Jahr für Jahr Menschen zu verlieren, die einem am Herzen lagen. Die Verluste summierten sich mit der Zeit, ebenso wie die Tragödien und die Momente, die man eigentlich nie erleben wollte. Das Glück, all die positiven Sache rückten dann immer mehr in den Hintergrund. Das konnte ich gerade jetzt nicht gebrauchen. Auch sonst nicht, deswegen lebte ich die meiste Zeit im Moment, dachte nur wenig an morgen und so gut wie nie an die Vergangenheit. Aber jetzt konnte ich es noch viel weniger gebrauchen als sonst. Ich musste mich konzentrieren, damit ich Juliet nicht auch bald zu meinen Verlusten aufzählen konnte.
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[01] Traumtänzerin
Hombres LoboAnja ist eine Walküre. Eine der wenigen, die es auf dieser Welt noch gibt. Sie hat eine einzigartige Gabe mit deren Hilfe sie Nachts durch die Träume der Menschen wandelt. Aber eines Nachts erscheint sie in den Träumen von Sebastian. Einem Werwolf...