Prolog

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"Bitte, Mum! Nur fünf Minuten!", bettelte der kleine Remus mit einem unwiderstehlichen Hundeblick. Fast unwiderstehlich. Denn seine Mutter schüttelte energisch den Kopf und deutete mit dem Kochlöffel auf die Treppe, die ins obere Stockwerk führte. "Nein, es ist viel zu gefährlich."

Trübe Augen und hängender Kopf machten sich zusammen mit dem Rest des Körpers auf den Weg in Remus' Zimmer, eine Etage höher. "Für Dad ist es natürlich nicht gefährlich", murmelte er noch, doch er gab seiner Mutter keine Chance zu antworten. Remus wusste genau, was der Unterschied zwischen ihm und seinem Vater war: Lyall war im Gegensatz zu seinem vierjährigen Sohn erwachsen. Und hatte seinen Abschluss an der besten Schule für Hexerei und Zauberei in der Tasche. Und konnte vernünftige Entscheidungen treffen. Auch das wusste Remus, aber vernünftig sein war langweilig. Sehr langweilig.

Leise schloss er die Tür zu seinem Zimmer hinter ihm, um seinen Opa nicht zu wecken. Der hielt nämlich sehr viel von guter Erziehung, was bedeutete, Remus durfte nichts falsch machen. Eigentlich war rechtzeitig schlafen gehen mit inbegriffen, doch seine Mutter war nicht so streng mit ihm. Die braunblonde Frau hielt ebenso viel von guter Erziehung wie ihr Vater, jedoch war ihre Bedeutung von 'gut' anders. Eigentlich, dachte der kleine Junge, hat sie Recht.

Schnell verdrängte er den Gedanken daran. Es war nicht hilfreich, wenn man gerade wütend und enttäuscht aus dem Fenster blickte. Der Vollmond leuchtete hell und ließ alles in seiner Umgebung heller und alles in weiter Ferne dunkler erscheinen. Träumerisch blickte er in den wolkenlosen Himmel und wünschte sich nichts sehnlicher, als dort draußen die Gegend zu erkunden.

Seit er vor zwei Monaten mit seinen Eltern in das Haus seines Opas gezogen war, weil der sich nicht mehr um sich selbst kümmern konnte, hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich die Umgebung mal genauer anzusehen. Und jetzt schien der perfekte Zeitpunkt dafür.

Mit gespitzten Ohren öffnete er das Fenster und kletterte auf das Sims. Es war ungefähr drei Meter tief und er hoffte für sich, dass er es schaffen konnte - ohne dass seine Mutter, oder schlimmer noch sein Großvater, ihn bemerken würde.

Sein Herz hämmerte laut gegen seine Brust, da er so einen tiefen Sprung noch nie gewagt hatte. Du bist ein Zauberer!, machte er sich selbst Mut und hielt die Luft an. Dann sprang er. Der Wind fuhr ihm durch die Haare und er genoss das Gefühl der Freiheit, das ihm während seines kurzen 'Fluges' überbemannte, in vollsten Zügen. Leichtfüßig landete er auf dem Rasen, der zu dem Garten gehörte, welcher das Haus seines Großvaters umrahmte. Er nahm sich keinen Moment, um seinen Triumph darüber auszukosten, dass er eine perfekte Landung hinbekommen hatte, sondern rannte so schnell ihn seine kleinen Beine trugen in die Dunkelheit. Nun ja, vorher galt es noch über einen Zaun zu klettern, doch der war kein großes Hindernis.

Nach wenigen Minuten blieb Remus stehen und atmete tief die frische Nachtluft ein. Zum wiederholten Mal an diesem Abend sah er hinauf in den Himmel, bewunderte die Schönheit des Vollmondes und genoss die entspannte Atmosphäre. Dann änderte sich das schlagartig. Was tat er hier nur? Seine Mutter würde sich Sorgen um ihn machen, sobald sie sein Verschwinden bemerken würde. Ein schlechtes Gewissen breitete sich in ihm aus und seine Atmung verschnellerte sich, als dem kleinen Jungen bewusst wurde, dass die Atmosphäre keineswegs entspannt war. Das Laub der Bäume wenige Meter von ihm entfernt raschelte gespenstisch im Wind und ein Zweig hinter ihm knackte laut auf. Hier draußen lauerten Gefahren. Gefahren, die er sich nicht mal vorstellen konnte oder auch nur wollte. Jedoch ließ er sich von der plötzlichen Angst in ihm nicht unterkriegen. Er war mutig, wollte es jedenfalls sein. Also hob er tapfer den Kopf und drehte sich um - nur um in zwei gelb funkelnde Augen zu gucken. Erschrocken erstarrte er wie zu einem Eisblock. Er wollte rennen, er wollte irgendwas tun, aber er konnte einfach nicht. Der kleine Junge war vor Panik und Angst so bewegungslos, dass er sogar vergessen hatte zu atmen. Statt irgendwas zu tun beobachtete er, wie der Werwolf - er hatte ihn inzwischen identifiziert - ihn anstarrte. Remus' Augen waren geweitet und die Furcht war für jeden Menschen zu sehen. In den gelben Augen des Werwolfs war jedoch nur Hunger zu erkennen. Hunger und erbarmungsloser Rachedurst.

Der kleine Junge wünschte sich nichts sehnlicher als die Augen zu öffnen und herauszufinden, dass das alles ein Traum war. Doch Remus hatte kaum Zeit zu blinzeln, da sprang der Werwolf in einem riesigen Satz auf ihn zu und riss ihn zu Boden. Er nahm nichts wahr, weder die Kälte noch die Zweige, die sich unsanft in seinen Rücken pressten. Der Werwolf hielt sich nicht mehr damit auf, ihm in die Augen zu sehen. Der Kopf mit den leuchtenden Augen beugte sich runter zu dem kleinen Oberkörper des Jungen und versenkte die messerscharfen Zähne tief in dem weichen Fleisch des vierjährigen, unschuldigen Jungen.

813 Wörter

Mondlicht ~ WolfstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt