Kapitel 5 - Dampf ablassen ✓

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Ich dachte noch lange über Kyle nach. Er hatte seinen Großvater über alles geliebt, das wusste ich. Ich wünschte, ich hätte für ihn da sein können, als es passierte. Er musste am Ende gewesen sein. Vielleicht war er deswegen so merkwürdig.
  Er hat dich nicht mehr zu interessieren Kaylee, steck deine Nase in deine eigenen Angelegenheiten. Es ging nicht. Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken. Vielleicht sollte ich rüber gehen und ihn fragen , ob er darüber reden wollte. Nein, dann würde ich wahrscheinlich aufdringlich wirken. Das war doch zum Kotzen! Ich sah auf die Uhr. Halb sechs. Ich stand auf und ging in die Küche, um das Abendessen zu machen. Mein Dad saß am Tisch und grübelte über seinem Laptop.
"Schreibblockade?", fragte ich und holte das Gemüse aus dem Kühlschrank.

"Nein. Findest du es interessanter, wenn der tote Protagonist wieder aufersteht, oder die ganze Zeit über eigentlich gar nicht tot war?"

"Hm. Das 2.", antwortete ich.

"Das 2. ... Ja ... Logisch." Ich schmunzelte und schnitt die Tomaten klein.

"Kaylee? Tust du mir einen Gefallen?"

"Ja?"

"Gehst du bitte an meinen Nachtschrank und holst mir meinen Notizblock?"

Ich nickte und lief die Treppe hinauf in Dads Schlafzimmer. Ich holte den Block aus der Schublade und ein loser Zettel fiel heraus. Er war beschrieben mit der Handschrift meines Vaters.

Die Einsamkeit ist tiefschwarz. Ein Loch, in das du fällst. Alleine kommst du nicht mehr heraus, denn dort ist keine Hand, die dir hilft. Kein Rettungsring, nur ein Gewicht, das dich in die Tiefe zieht. Die Einsamkeit schmeckt bitter und lässt dich leiden. Sie zeigt dir immer wieder, dass ein kleiner Teil fehlt. Die Einsamkeit ist leer. Sie zerfrisst alles in dir. Irgendwann bleibt nur noch ein Nichts.

Ich warf einen Blick auf das Datum. Es war in der Zeit entstanden, in der meine Mutter Dad für einen Anderen verlassen hatte. Ich blätterte weiter.

Sie log. Die ganze Zeit über log sie. Sie atmete ihre Lügen. Sie log bei allem, was sie tat. Sie log und saugte alle Lebensfreude aus mir heraus wie ein gieriger Vampir. Und sie wollte mich bluten sehen.

Ich blätterte weiter und weiter. Auf jeder Seite stand etwas in diese Richtung. Der Hass auf meine Mutter stieg ins Unermessliche. Ich legte die Zettel zurück in den Block, brachte diesen meinem Vater und schnappte mir meine Schlüssel.

"Bin noch mal weg!", rief ich Dad zu und zog die Haustür hinter mir ins Schloss. Ich machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle und wartete dort. Der nächste Bus fuhr erst in zehn Minuten.

"Wo willst du denn noch hin?" Ich hob den Weg und erblickte Kyles roten Chevrolet. Er hatte das Fenster heruntergekurbelt und sah mich fragend an.

"Ich muss was mit meiner Mutter klären."

"Wohnt sie nicht mehr bei euch?" Er sah genauso schockiert aus wie ich, als er mir erzählt hatte, dass sein Großvater gestorben war. Ich schüttelte bloß den Kopf.

"Du könntest mir alles erzählen, während ich dich hinfahre." Ein Lächeln huschte über mein Gesicht und ich ging zur Beifahrerseite. Im Auto erzählte ich ihm alles. Wie meine Mutter immer später Nachhause gekommen war, wie ich sie erwischt hatte mit einem elf Jahre jüngerem Typen, wie sie plötzlich einfach weg war und Dad nur einen Brief hinterlassen hatte. Kyle schwieg lange darüber .
"Das hätte ich deiner Mutter nicht zugetraut.", meinte er nach einer Weile.

"Ich auch nicht.", murmelte ich. Schweigen erfüllte den Wagen, bis wir in Mums Straße bogen.
"Soll ich auf dich warten?", fragte er.

"Das würdest du tun?", Ich sah ihn verwundert an.

"Ja klar. Wer weiß, wie dein Zustand danach ist."

Ich lächelte ihn an und stieg aus. Als ich an der Tür des Neubaus geklingelt hatte, kam mir meine Idee plötzlich idiotisch vor. Was machst du hier Kaylee? Was willst du überhaupt sagen?

"Ja?", ertönte die Stimme meiner Mutter. Ich schluckte.

"Hallo?"

"Deine Tochter." Es surrte und die Tür öffnete sich. Ich lief das Treppenhaus hinauf. Meine Mutter stand schon in der Tür.

"Kaylee!", sie strahlte. Zu früh gefreut, Mum. Ich drängte mich an ihr vorbei und betrat das Wohnzimmer. Ihr Lover saß im Anzug auf der Couch und füllte irgendwelche Formulare aus. Schnösel.

"Was verschafft mir die Ehre? Hast du endlich begriffen, dass deine Wut unberechtigt ist?" Ich hätte ihr am liebsten Irgendetwas an den Kopf geworfen. Ihr Lover sah mich an wie ein lästiges Insekt.

"Halt einfach die Klappe und hör mir genau zu! Ich werde dir niemals verzeihen! Niemals! Ich bin hier um dir zu sagen, dass du das schrecklichste Miststück auf diesem Erdball bist und ich schäme mich dafür, deine Tochter zu sein! Vielleicht hast du Mason eingewickelt, aber bei mir schaffst du das nicht. Weißt du überhaupt, wie sehr du Dad weh getan hast? Und anstatt Reue zu zeigen redest du ihn bei Mason schlecht?! Tickst du noch ganz richtig?! "

"Kaylee, sei nicht kindisch. Wir können uns unterhalten wie Erwachse und ..."

"Wie Erwachsene?! Das ich nicht lache! Du ersetzt einen Mann, der mitten im Leben steht, durch einen Milchbubi, der über zehn Jahre jünger ist als du und du willst mir was von erwachsen erzählen?! Hör auf mich anzurufen, hör auf Mason vorzuschicken, damit er ein gutes Wort für dich einlegt, hör auf zu denken, ich würde mich irgendwann wieder einkriegen! Das werde ich nicht! Niemals, denn das verdienst du nicht!"

"Kaylee Parker, ich bin deine Mutter und ich..."

Ich unterbrach sie mit einem verächtlichen Schnauben. "Du bist nicht mehr meine Mutter. Höchstens biologisch. Ich will nichts mehr von dir wissen. Von mir aus verrotte doch irgendwo." Ich drehte mich um und stürmte aus der Wohnungstür. Das hatte gut getan, das hatte ich gebraucht. Tränen liefen mir über die Wangen, doch ich fühlte mich erleichtert. Das war schon längst überfällig gewesen.
 Als ich aus dem Neubau herauskam und auf Kyles Chevrolet zusteuerte sah ich, wie er sich einen Joint anzündete. Ne, oder ? Ich klopfte an die Scheibe und er zuckte zusammen. Dann deutete er mir einzusteigen. Ich zögerte kurz. Es ist sein Leben, Kaylee. Zick jetzt nicht wegen eines Joints rum. Also entschied ich mich dazu einzusteigen.

"Rauchst du das Zeug öfter?", fragte ich.

"Nicht zu oft, falls du das meinst.", antwortete er und nahm einen tiefen Zug. "Wie wars?", fragte er dann.

Ich zuckte die Schultern. "Befreiend." Er merkte , dass ich nicht darüber reden wollte. Schweigend fuhr er mich wieder Nachhause.

"Danke.", murmelte ich, als wir da waren.

"Kein Problem."

"Wo willst du jetzt noch hin?"

"Geht dich 'nen Scheißdreck an." Aha. Wir waren also wieder beim Arschloch angekommen. Ohne ein weiteres Wort stieg ich aus, knallte die Autotür zu und betrat das Haus.

Kiss Me Softly (abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt