Zurück in die Hölle

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"Scheiße, wo bin ich hier eigentlich?" hektisch sah Leo sich um und humpelte orientierungslos durch die Straßen. "Warum musste dieser scheiß Auftrag auch ausgerechnet hier in Aachen gewesen sein? Konnte es nicht Köln sein? Da kenn ich mich wenigstens aus." Mirko war stocksauer am Telefon gewesen und hatte Leo angeschrien.

"Du bewegst deinen faulen Arsch sofort hierher, sonst setztst ne Tracht Prügel, ist das klar?" hatte er gebrüllt. "Ich bezahl dich nicht fürs trödeln und rum gammeln." Na eigentlich bezahlte Mirko Leo gar nicht. Nach dem Tod von Leos Mutter hatte Mirko lediglich dafür gesorgt, dass Leo ein Dach über den Kopf hatte und so viel Nahrung bekam, dass keiner das Jugendamt rief. Zumindest bis vor drei Jahren. Da war Leo volljährig geworden. Endlich erblickte Leo das große Gebäude vom Aachener Hauptbahnhof. Gut, von hier aus kam man wenigstens nach Köln, soviel wusste Leo. Der Automat verriet, dass der nächste Zug in knapp zwanzig Minten kommen würde. Na super, das hieß vor halb sechs würde Leo nicht bei Mirko eintreffen. Der würde toben, soviel war klar. Die Jacke enger um den hageren Körper ziehend setzte sich Leo auf eine der Plätze und ging in Gedanken noch mal die letzten Ereignisse durch. Wow, Julien Bam. Der berühmte Julien Bam. Jeder hoffte ihn mal zu treffen und ausgerechnet Leo begegnete ihm. Und das auch noch, während einer Flucht. Eigentlich waren die vier Jungs Leos Lebensretter. Doch was brachte es, wenn man nicht sagen konnte, wer man ist und was man macht. Es war besser gewesen, dass Leo heimlich und leise abgehauen war. Viele Gedanken huschten durch Leos Kopf, während die Zeit verging, endlich der Zug kam und es zurück nach Köln ging.

Wie zu erwarten war Mirko dort auf 300, als Leo leise das Haus betrat. Sie, das heißt Mirko, seine Gang und noch rund zehn andere Kids bwohnten das baufällige Gebäude in der Nähe des Hauptbahnhofes. Mirko hielt es nicht für nötig, irgend welches Geld in die Reparatur der Fenster oder der Türen zu stecken. Dieses Haus hatte früher Leos Mutter gehört, bevor sie verstorben war. Und da Mirko sie vor ihrem Tod noch geheiratet hatte war alles an ihn über gegangen. Obwohl Leo stark vermutete, dass Mirko sie nur deswegen noch geheiratet hatte.

"Wo bist du gewesen?" brüllte Mirko auch gleich los. "Der Job war vor sechs Stunden gewesen." Breitbeinig stand er in der Küche, die sich im Erdgeschoss befand. Leo stand noch im Wohnzimmer, von wo aus man in die Küche kam.

"Ich musste ab hauen, da waren überall Bullen," vesuchte Leo zu erklären.

"Willst du mich verarschen?" Mirko haute auf den Tisch, worauf Jan und Tom erschrocken ihre Bierflaschen fest hielten. "Glaub nur nicht, weil ich deine scheiß Mutter geheiratet hab, dass ich dir alles durch gehen lass. Du machst die Jobs genauso, wie alle anderen hier, ist das klar?" Eingeschüchtert nickte Leo. "Ansonsten schick ich deinen knochigen Arsch auf die Straße. Es gibt auch Kerle, die auf so Fotzen wie dich steh'n." Und damit huschte ein bösartiges Grinsen über Mirkos Gesicht, was Leo einen Angstschauer über den Rücken laufen ließ.

"Wird nicht mehr vorkommen," versicherte Leo, mit den Händen in den Jackentaschen. Das war das einzige, wovor sie wirklich Schiss hatte. Dass Mirko sie auf den Strich schicken würde. Deswegen hatte sie sich auch immer die Haare so kurz rasiert. Damit sie so wenig sexy wie nur irgend möglich aussah und sie keiner für ein Mädchen hielt. So machte sie auch keiner während eines Jobs blöd an, was Marie oder Jenny schon des öfteren passiert war.

"Dann verzieh dich jetzt nach oben," fuhr Mirko sie wieder an und Leo sah zu, dass sie wieder in den Flur kam. Nur weg aus Mirkos Sicht. Im Flur wandte sie sich nach rechts und ging am Ende die Treppen hoch in den zweiten Stock. Hier waren die Zimmer der Kids. Insgesamt gab es hier drei Zimmer, in denen Matratzen auf dem Boden lagen, und ein Bad, welches sie sich teilten. Leo schlief mit Jenny und Marie zusammen im letzten Zimmer auf der rechten Seite. Jenny war 16 und Marie 17. Im Zimmer gegenüber schliefen Jason (15), Sam (17) - eigentlich Samuel - und Phillip (15). Im Zimmer neben ihrem, also der zweiten Tür auf der rechten Seite, schliefen Andy (12), Marco (17), Marc (13) und Torben (16). Das erste Zimmer auf der rechten Seite war das Bad. Leo war mit ihren 21 also die älteste. Sie ging direkt in ihr Zimmer, wo Jenny und Marie bereits schliefen. Als Kopfkissen hatten sie alle Rucksäcke, die mit ihren nötigsten Sachen befüllt waren. Für den Fall, dass sie hier schnell weg mussten. Müde schlüpfte Leo aus ihren Schuhen und der Lederjacke. Statt dessen zog sie sich einen Hoodie an, damit sie nicht zu sehr fror. Auch wenn es nur Herbst war, so wurde es in der Nacht doch ganz schön kühl und in dem Haus gab es keine funktionierende Heizung. Vielleicht auch, weil Mirko es nicht einsah, Gas zu bezahlen. Der Herd lief ja über Strom. Nur das Wasser und die Heizung liefen mit Gas. Was bedeutete, dass es nur kaltes Wasser gab und eben keine Heizung. Kaum dass Leo lag fielen ihr auch schon die Augen zu und sie fiel in einen unruhigen Schlaf, immer mit einem Ohr nach Gefahren lauschend.

Die nächsten Tage vergingen bei Leo nach dem üblichen Trott. Aufstehen, evenutell kalt duschen, was essen - sofern was brauchbares da war - und dann die Jobs erledigen, die Mirko ihr auftrug. Das konnte Deals aushandeln sein, Ware holen oder ab geben oder auch einfach eine Schautour. So nannten die Kids es, wenn sie für Mirko mal wieder klauen gehen mussten. Meistens war das, wenn irgend welche Läden wieder Ware bekamen. Dann mussten sie zu zweit oder dritt los um die Ware frisch vom Transporter zu organisieren. Wenn nichts dergleichen zu tun war versammelten sie sich meist am Rheingarten, der sich von der Hohenzollernbrücke aus am Rhein befand. Und da wollte Leo auch gleich hin. Doch erst mal musste sie noch ihren letzten Job für heute erledigen. Und das am hellichten Tag. Wie sie das hasste. Da musste man noch mehr aufpassen nicht erwischt oder gesehen zu werden. Treffpunkt war um 16 Uhr im Mediapark. Nervös stand Leo im Schatten einiger Büsche und sah auf ihr Handy. Es war bereits zehn nach vier und von Kolle keine Spur. Jetzt stand sie hier mit gut und gerne 30 Gramm Weed. Kleine Mengen waren ja nicht das Problem. Die konnte man ganz schnell in seinem Schuh oder so verschwinden lassen. Aber 30 Gramm waren schon was anderes. Leo konnte nicht verstehen, wieso manche Menschen so dumm waren und sich die Birne mit so Zeug vernebelten. In dem Moment kam Kolle auch schon über die Wiese auf sie zu und Leo konnte ganz klar erkennen, dass der auch nicht mehr so ganz nüchtern sein konnte. Sein Gang erinnerte stark an einen Seemann bei Sturm auf hoher See, was Leo genervt die Augen rollen ließ. Wenn Kolle ein zuviel hatte war es besser, das Ding schnell über die Bühne zu bringen. Er würde sonst noch die Ware verwechseln und statt dem Weed sie wollen.

"Eyyyyyyy Leooooooooo," lallte er sie an, kaum dass sie in Hörweite war.

Sie wartete, bis er vor ihr stand, als sie ihn grüßte. "Hi Kolle," damit hielt sie ihm die Ware hin. "Macht nen fuffi."

"Eyyyyyyyyyyyy, wiesoooo scho deuer?"

"Mach kein Stress Kolle, du kennst die Preise. Ich mach die nicht." Leo ging einen Schritt zurück, um nicht die volle Alkoholfahne ab zu bekommen. "Wenn dir die Preise nicht passen, dann klär das mit Mirko. Ich bin nur der Bote."

"Abba ein verdammd hüscher Booode," nuschelte er und griff mit seinen Fingern an den Reißverschluss ihrer Lederjacke.

Unsanft schlug sie die Hand weg. "Lass das. Entweder du gibst mir den Fuffi, oder ich bin weg. Mit dem Zeug. So einfach ist das."

"Jaaaa, isch ja guuud." Torkelnd griff Kolle in die Tasche seines grünen Parkas und holte ein Paar zerknüllte Scheine hervor. Meist zehner und fünfer, wahrscheinlich geklaut oder geschnorrt. Langsam zählte er das Geld ab, was Leo schon wieder viel zu lange dauerte. Unruhig fuhr ihr Blick zwischen ihm und dem Park hin und her. Endlich hatte sie die fünfzig Euro in der Hand, überreichte Kolle den Stoff und ging ohne einen Abschied davon in Richtung Einkaufspassage. In Höhe der Schaukeln, die sich noch davor befanden sah Leo eine Tasche auf dem Boden liegen, deren Besitzer abgelenkt und mit einigen anderen in ein Gespräch vertieft war. Während des Laufens bückte Leo sich, griff nach der Tasche und hängte sie sich über die rechte Schulter. Ohne dabei ihre Schritte zu verlangsamen geschah dies und sie setzte ihren Weg fort, war schon fast am Weg, der zur Maybachstraße führte, als sie den Besitzer der Tasche fluchen hörte. Unbekümmert bog sie links ab und war somit außer Sichtweite. Da erst sprintete Leo los, rannte in Richtung Treffpunkt der Kids, um dort zu schauen, ob sich der Rip gelohnt hatte oder nicht.

Auf den zweiten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt