Auf den zweiten Blick

Nicht jeder ist bereit zu reden

Als Leo am nächsen Morgen wach wurde schlich sie zuerst ins Bad, wo sie sich wusch und die Zähne putzte. Dann ging sie ebenso leise nach unten und erstarrte erst, als sie Julien auf der Couch liegen sah. Ohne Shirt und die Decke nur bis kurz über der Hüfte sah man seine ganzen Tattoos, was sie stark schlucken ließ. Und sofort verkrampfte sich ihr Herz wieder, der Kloß in ihrer Kehle war erneut da, genauso wie das Ziehen in hrem Bauch. Ihr ganzer Körper zog sich zusammen, fiel es ihr auf, kaum dass sie Julien sah. Sie wurde durch das Öffnen der Haustür abgelenkt, durch die Vince herein trat. Als er sie sah wollte er sie gleich freudig begrüßen, doch Leo legte schnell den Zeigefinger auf ihre Lippen und zeigte dann auf den schlafenden Julien. Mit fragendem Blick trat er auf sie zu, warf einen Blick in den Raum, worauf er die Stirn runzeln musste. "Warum schläft er auf der Couch?" flüsterte er, doch Leo zuckte nur die Schultern. Kurzerhand ging Vince leise in den Wintergarten, wo Julien normalerweise schlief und fand dort einen schlafenden Passi, sowie einen ebenso schlafenden Marius. Immer noch verwundert ging er zu Leo zurück, zeigte mit dem Kopf in die Küche runter, wo beide hin gingen. "Kaffee?" fragte er sie, während er auf die Kaffeemaschine und den Wasserkocher zu ging, die an der Spüle standen.

"Ja gerne. Bin auch erst wach geworden. Wie spät haben wir eigentlich?"

"Müsste etwa kurz nach halb acht sein," schätzte er, während er die beiden Geräte startete. "Ist Thomas auch da?"

"Keine Ahnung. Ich bin gestern vor allen ins Bett," gab sie zu und senkte den Kopf, während sie am Esstisch Platz nahm. Auf dem Platz rechts, mit Blick auf den Bogen. So konnte sie nicht sehen, wie Vince sie skeptisch anah.

"Ist gestern irgendwas passiert?" wollte er wissen.

"Wie man's nimmt," fing sie an. "Jan und Tom standen vor der Tür und wollten mit mir reeeden."

Jetzt zeigte Vince' Gesicht Überraschung, als er mit einem: "Oh," antwortete. "Was ist passiert?" Während er sich mit zwei Tassen neben sie setzte, wobei er die mit Kaffee ihr zuschob und die mit Tee behielt, gab sie ihm einen kurzen Bericht über die Aktion mit den beiden Männern. "Verstehe. Und was willst du jetzt machen? Ich mein, immerhin haben sie nichts strafbares gemacht. Von daher wird die Polizei bestimmt nichts machen können."

"Ich weiß. Aber Herr Förster hat gesagt, dass ich ihn anrufen soll wenn die mich irgendwie belästigen." Sie zuckte mit den Schultern und versuchte scheinbar in ihrem Kaffe sämtliche Antworten der Welt zu suchen, so sehr fixierte sie ihn.

"Hmhm," nickte Vince. "Und was ist noch passiert?"

Verdutzt sah Leo ihn an und blickte in sein aufforderndes Gesicht, bei dem er die Brauen hoch gezogen hatte. Er hatte sich in seinem Stuhl gedreht, den rechten Arm auf die Rückenlehne gelegt und wartete auf den nächsten Bericht. Beschämt drehte sie den Kopf weg, dann wieder zu ihm und atmete tief aus. Die Verzweiflung, die in ihren Augen zu sehen war ließ Vince nichts Gutes ahnen. Er wollte gerade nachfragen was passiert sei, als Leo leise sagte: "Ju hat mich geküsst."

"Uh .. moment ... was?" Vince konnte sich nicht entscheiden, ob er überrascht oder froh sein sollte. Doch die Ironie darin, dass Julien seit Jahren keine Beziehung haben wollte und dann ausgerechnet das Girl küsste, was alle die ganze Zeit für einen Jungen gehalten hatten, ließ ihn los lachen.

"Das ist nicht witzig!" warf Leo ein.

"Doch, irgendwo schon. Oh, ich verstehe. Du wolltest das nicht," stellte er erschrocken fest.

"Was? Nein," wollte sie widersprechen. "Ich mein ... ich weiß nicht. Keine Ahnung. Es war nur kurz und dann ist er hoch gestürmt."

"Wie hoch gestürmt?" Also erklärte Leo ihm, was gestern genau passiert war, worauf Vince dann sagte: "Weißt du, Ju ist ein workaholic. Er hat sämtlichen Beziehungen abgeschworen, weil er sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrieren will. Du musst ihm Zeit geben mit seinen Gefühlen klar zu kommen. Ich glaube, das überwältigt ihn gerade selber etwas." Während Vince das erzählte beobachtete er sie dabei, wie sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand den Rand ihrer Tasse umkreiste. "Und du? Was empfindest du für ihn?" hakte er vorsichtig nach.