Gewissensbisse

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Nach dem Essen zeigte Julien Leo das Haus und auch, wo sie schlafen konnte. Es war ein Zimmer im ersten Obergeschoss, welches sich gleich als erstes rechts befand. Ganz oben unterm Dach war noch ein weiterer Raum, der von einem Vince genutzt wurde, den Leo jedoch noch nicht kannte. Und da dieser auch nicht da war würde das heute nicht geschehen. Zum Schluss gingen sie ins Büro, welches ebenfalls im ersten Stock war. Dort waren Passi, Marius und Thomas nach dem Essen auch hin verschwunden und sie saßen jeder an einem Rechner, blickten jedoch auf, als die beiden rein kamen. Bis auf Marius, der sie wegen seiner Kopfhörer nichts wahr nahm.

"Und unten, neben der Tür ist noch Annikas Büro," endete Julien seine Führung.

"Annika ist deine Frau ... Freundin?" fragte Leo.

Ein kurzes Lachen ertönte von Julien. "Nein, Annika ist meine Managerin. Aber ich warne dich lieber gleich ... sie steht nicht auf jüngere. Also probier es erst gar nicht" Erschrocken zog Leo die Brauen hoch.

"Ähm ... ja ... okay, weiß ich Bescheid," stotterte sie dann verlegen.

"So Jungs, ich würde sagen, wir kümmern uns jetzt erst mal um das VIP Video," kam es dann wieder von Julien. "Willst du zu schauen, was und wie wir das machen?" fragte er Leo. Irgendwie interessierte sie es schon, daher nickte sie. Ausserdem hatte sie keine Lust, sich alleine im Haus irgendwo zu langweilen. Julien holte einen Stuhl herbei, auf den sie sich setzte. Neugierig sah sie ihm dabei zu, wie er das Video in einzelne Bilder zerstückelte, um es dann zu bearbeiten. Oder zumindest sah es für sie so aus. Eigentlich verstand sie nicht wirklich, was er da machte, da sie auch keinen eigenen Rechner hatte. Lediglich ein einfaches Smartphone, mit dem man zwar ins Internet könnte, aber das dauerte Jahre. Und Freizeit hatte Leo bis jetzt ja nicht wirklich gehabt. Ab und zu warf sie einen Blick zu Marius und Passi rüber, die ebenfalls an ihren Rechnern arbeiteten. Marius, mit Kopfhörern auf den Ohren, machte eindeutig was anderes als Julien. Bei Passi hingegen sah es genauso aus, nur dass die Bilder - oder das Video - nicht die selben waren. Thomas hingegen saß vor einem Laptop und war dabei etwas im Internt zu machen oder zu suchen.

"Woran arbeitet ihr nur alle?" fragte sie mehr zu sich, als dass sie jemanden von ihnen direkt angesprochen hätte.

Julien hatte sie allerdings gehört und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, drehte sich mit ihm in ihre Richtung und sah sie an, während er erklärte und erst auf Marius zeigte. "Marius macht die special Effects für das neue Video. Wir haben einige Szenen dafür schon im Kasten. Passi schneidet gerade noch die Szenen, die noch nicht fertig sind. Und ich bearbeite das Video für die VIP's."

"Die VIP's?" fragend sah Leo ihn an. "Für Promis und so?"

Ein schmunzeln stahl sich auf Juliens Gesicht. "Nein, unsere Unterstützer sind die sogenannten VIP's oder auch Drachencrew von uns genannt." Dann legte er den Kopf nachdenklich schief, bevor er sie im Gegenzug fragte: "Du hast von YouTube so gar keine Ahnung, hab ich Recht?"

"Merkt man das?"

"Kaum," log er mit breitem Grinsen. "Aber ich konnte es mir auch denken. Wenn man bedenkt, wie es dir bisher ergangen ist ..." Er ließ das Ende ungesagt. Zum einen, weil er Leo nicht verletzen wollte und zum anderen, damit Passi und Thomas nicht irgend etwas aufschnappen konnten, was Leo noch nicht gesagt hatte. Sie sollte selber entscheiden, wann sie die anderen infomieren wollte. "Wenn du müde bist, kannst du auch gerne ins Bett gehen," bot er ihr dann an. "Du musst nicht so lange wach bleiben wie wir."

"Ich geh sonst auch immer erst gegen sechs Uhr morgens ins Bett," erklärte sie Kopf schüttelnd. "Also alles gut."

Es wurde zwar nicht fünf Uhr morgens, aber es war schon nach Mitternacht, als Passi, Thomas und Marius sich verabschiedeten. Julien schnitt noch etwas an seinem Video, wo Leo ihm bei zu sah, bis es dann schon fast zwei Uhr war. Da beide noch Hunger hatten gingen sie danach runter in die Küche, um sich über die Reste des Mittagessens her zu machen. Sie saßen beide am Tisch und Leo nutzte die Chance Julien etwas über seine Tätigkeiten im YouTube Bereich aus zu fragen. Insgeheim hatte sie allerdings nur keine Lust, dass sie weitere Fragen beantworten musste. Außerdem lernte sie so Julien etwas besser kennen und erfuhr auch, dass er die BamSchool erst in diesem Jahr eröffnete hatte und sie ein lang ersehnter Traum von ihm war. Auf die Frage nach einer Freundin musste er erst lachen, bevor er ihr eine Antwort gab: "Weißt du, mein Leben ist eine einzige To-Do-Liste. Da wäre für eine Freundin kein Platz. Oder vielmehr keine Zeit." Gähnend streckte er sich. "Was hältst du davon, wenn wir langsam schlafen gehen?" Als Antwort nickte Leo und half ihm, die leeren Packungen in dem Müll zu entsorgen. "Morgen werden die Jungs wieder da sein. Vince diesmal auch," fing Julien an zu erklären, während sie die Stufen der Küche hoch gingen. "Du musst nicht mit mir aufstehen. Aber wunder dich halt nicht, wenn es ab acht oder so lauter wird."

"Okay, weiß ich Bescheid."

Sie wünschten sich noch eine gute Nacht, bevor Leo nach oben ging und Julien den Weg in den Wintergarten einschlug, wo er schlafen würde, solange Leo hier war.

Leo legte sich erst mal mitsamt ihrer Klamotten ins Bett und warf einen Blick auf die Uhr, die sich gegenüber an der Wand befand. Es war erst halb vier, was für Leo normalerweise noch keine Schlafenszeit war. Um diese Uhrzeit war sie für gewöhnlich noch auf den Straßen unterwegs. Während ihre Gedanken umher schweiften überkam sie irgendwo schon ein schlechtes Gewissen, dass Julien und die anderen sie für einen Jungen hielten und sie sie nicht über das Gegenteil aufgeklärt hatte. Daher fragte sie sich, ob es einen Unterschied machen würde. Würde er sie dann anders behandeln? Oder sie gar wieder zurück auf die Staße schmeißen? Sie kannte ihn kaum und konnte sich daher keine Meinung dazu bilden. Aber tendenziell hatte sie ihn ja nicht belogen. Sie konnte ja nichts dafür, dass alle davon ausgingen, dass sie ein Junge war. Dann gingen ihre Gedanken zu den anderen, die sie jetzt alle im Stich gelassen hatte. Was würde Mirko wohl mit ihnen anstellen? Würde er seine Wut, dass Leo weg war, an ihnen aus lassen? Es waren so viele Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten, dass sie das Gefühl hatte sämtliche Nervenbahnen in ihrem Hirn würden ein Gewitter veranstalten. So konnte sie definitiv nicht schlafen, weswegen sie vom Bett aufstand, welches sich direkt an der Wand mit der Tür befand. Gegenüber dieser Wand befanden sich zwei große Fenster, vor denen Lamellen angebracht waren, die von der Decke bis zum Boden reichten. Zu diesen Fenstern ging Leo und schob zwei Lamellen auseinander, um raus zu sehen. Unter ihr befand sich ein erleuchteter Garten, der Leo lächeln ließ. Ob Julien das selbst gemacht hatte? Oder hatte er jemanden damit beauftragt? Denn das sah schon ziemlich nice aus. Hinter dem Garten, der von einer Mauer eingerahmt war, konnte man weitere hohe Häuser sehen, von denen einige Fenster sogar noch beleuchtet waren. Leo fiel Jenny ein, der der Garten bestimmt gefallen würde und sie machte sich Sorgen, um das junge Mädchen, die die hübscheste von ihnen und somit auch die begehrteste bei Mirkos Kunden war. Die Luft aus den Wangen lassend drehte Leo sich um und lehnte sich gegen die Fensterbank, während sie ihr Handy hervor holte, um es ein zu schalten. Sofort machte sie die Töne aus und bekam als nächstes die Nachrichten über mehrere verpasste Anrufe. Ebenso zeigte der WhattsApp Button über zwanzig Nachrichten. Die Anrufe waren allesamt von Mirko, wie auch nicht anders zu erwarten. Unter den WhattsApp befanden sich auch noch die aus der Gruppe und von Marie und Marco. Er war das für die Jungs, was Leo für die Mädchen war. Bei ihm war es aber nicht das Alter, sondern weil er am längsten von den Jungs da war. In der Gruppe war lediglich die Order gekommen, dass alle sofort zurück kommen sollten. Marcos Nachrichten waren für Leo viel wichtiger.

>>> Leo wo bist du? Mirko flippt hier gerade total aus! <<<

>>> Leo, bitte melde dich und geb Bescheid, ob es dir gut geht. <<<

>>> Leo, er hat uns alle auf dich angesetzt. Auch seine Kunden sollen nach dir Ausschau halten. <<<

Das waren die Nachrichten von Marco. Unruhig biss Leo sich auf die Unterlippe. Hatte sie falsch reagiert? Hätte sie das einfach über sich ergehen lassen sollen? Jenny und Marie schafften das doch auch. Und jetzt hatte sie alle im Stich gelassen und wahrscheinlich sogar in Gefahr gebracht, weil sie abgehauen war. Mit ungutem Gefühl im Bauch öffnete sie dann noch die Nachrichten von Marie, die sie dann komplett aus der Bahn warfen.

>>> Leo, wo bist du? Mirko ist gerade total ausgerottet. Er hat Jenny in sein Zimmer eingeschlossen. Er werden lehren was dankbarkeit heizung bist du wieder da bin. <<<

Diese Nachricht war so verwirrend, dass Leo sie zwei mal lesen musste, um zu verstehen, was Marie ihr damit sagen wollte. Offenbar war sie kaum in der Lage gewesen, eine gescheite Nachricht zu verfassen, doch Leo verstand schnell, was Marie ihr hatte sagen wollen. Mirko hatte Jenny in sein Schlafzimmer eingesperrt, um an ihr ein Exempel zu setzen. Wer sich widersetzt erlebt seine Strafe. In diesem Moment hatte Leo Angst um das junge Mädchen, welches Mirko bestimmt nicht mit Samthandschuhen anfassen würde.

Auf den zweiten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt