Raus schreien

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Am nächsten Morgen bekamen die beiden vom behandelnden Stationsartz, der diesmal ein anderer war, das erhoffte okay, dass sie nach Hause durften. Nach einem kurzen Anruf bei Passi versprach er, sich auf den Weg zu machen, um sie beide ab zu holen. Julien half Leo beim anziehen und ging dann mit ihr zusammen nach unten, wo sie auf Passi warteten, der kurz darauf vor dem Krankenhaus hielt. Auf die Frage, ob sie zu Julien nach Hause wollten geriet der junge Mann ins Grübeln. Er wusste nicht, ob es so eine gute Idee war und sah deswegeen Leo an, die links von ihm saß. Auch sie schien nicht recht zu wissen, bis sie dann jedoch langsam nickte. Auf der Fahrt knetete sie nervös ihre Hände, biss sich wieder auf die Unterlippe.

Zu dritt gingen sie auf das Haus zu. Julien als Erster, der auch direkt die Tür aufschloss und als Erster durch trat. Hinter ihm Leo, gefolgt von Passi. Ihr Blick blieb kurz an der Stelle haften, an der Julien liegend aufgewacht war, bevor sie weiter lief, ohne ihre Schuhe oder Jacke ausgezogen zu haben. Zuerst beobachtete Julien sie nur, genauso wie Passi. Als sie jedoch in Richtung Wohnzimmer ging folgte er ihr langsam, bereit für sie da zu sein, falls sie ihn brauchte. In der Mitte des Raumes blieb sie kuzr stehen, atmete tief ein und aus, bevor sie die nächsten Schritte zur Terrassentür machte und diese öffnete, was ihr etwas Mühe bereitete, das sie nur die rechte Hand benutzen konnte. Dann trat sie raus, machte die ersten Schritte auf die Terrasse, während Julien an der geöffneten Tür lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und sie nicht aus den Augen ließ. Ihr Kopf war leicht gesenkt, scheinbar betrachtete sie den Boden vor ihr, wo Julien Mirko von ihr herunter getreten hatte. Julien bemerkte noch das kurze Schütteln, das durch ihren Körper ging, bevor das ganze Ausmaß der Katastophe aus ihr heraus brach.

Mit einm Mal sackte sie auf die Knie, ließ sich auf die Fersen sinken und schrie. Schrie die ganze Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit heraus, die sie seit dem Vorfall in sich gespürt hatte.

Erschrocken zuckte Julien zusammen, bevor er zu ihr eilte, hinter ihr in die Hocke ging und seine Arme um sie legte, bis der Schrei versiegte und den Tränen Platz machte, die sie die letzten ein einhalb Tage nicht heraus gelassen hatte. Auch Julien kniete sich jetzt hin und setzte sich auf seine Fersen, um sie besser zu halten und an sich zu drücken, während Leo immer heftiger weinte und schluchzte. Beruhigend strich er über ihre Oberarme, die er mit seinen Armen fest umklammert hatte.

"I i ich k k konnte ni hi hicht," versuchte sie schluchzend zu erklären. "Und ich ... ich d d dachte du wärst ...," erneut brach sie in einen Weinkrampf aus, hielt sich die gesunde Hand vors Gesicht.

"Sssscht," machte Julien, um sie zu beruhigen. "Es geht mir gut. Sie können uns nie wieder etwas tun."

Während ihr noch immer die Tränen über die Wangen liefen nickte Leo. "I ich dachte ... er w würde ... a als er."

"Ich weiß," sagte Julien leise, schüttelte leicht den Kopf weil er sich erneut Vorwürfe machte.

Keiner von beiden hatte bemerkt, wie Passi ihnen nach Leo's Aufschrei gefolgt war und nun seinerseits an der geöffneten Tür stand. Mit traurigem Blick beobachtete er die beiden und kam sich hilflos vor.

Irgendwann - nach einer gefühlten Ewigkeit - hörten die Schluchzer auf und Leo's Atmung wurde langsam wieder etwas ruhiger, wurde nur noch ab und zu durch ein Schütteln ihres Körpers unterbrochen. "Als Tom dich auf den Boden hat fallen lassen," fing sie leise an, während sie ihren Kopf an seine Brust lehnte, "dachte ich ...." Sie konnte den Satz, der ihr so viel Angst bereitet hatte nicht aussprechen.

"Ich weiß,"sagte Julien ebenso leise. "Er hat mich aber nur k.o. geschlagen."

Wieder nickte sie, bevor sie weiter sprach. "Wenn du nicht gekommen wärst ... Tom hätte getan, was er mir angedroht hatte." Verzweifelt schloss Julien die Augen, während er tief durch atmete. "Es war nicht deine Schuld Ju."

"Das kannst du mir nicht ausreden!" beharrte er und sorgte dafür, dass Leo sich nach links drehte, um ihn an zu sehen.

Die gesunde Hand an seine Wangen legend sah sie ihn eindringlich an. "Wenn du nicht gewesen wärst hätte Tom mich ... du weißt was ich meine."

"Wenn ich besser aufgepasst hätte wäre das gar nicht erst passiert," widersprach er ihr und strich ihr die restlichen Tränen von der Wange.

"Dann hätte er das gemacht, wenn ich alleine gewesen wär. Und das weißt du auch," beharrte sie. Damit hatte sie unweigerlich Recht, auch wenn Julien es nicht zugeben wollte. Statt dessen senkte er seinen Kopf und gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen.

"Jetzt sind beide im Gefängnis, wo sie hin gehören und können uns nichts mehr tun," lenkte er ein.

Den Kopf an seine Brust lehnend gab sie ihm die Antwort. "Ja, Gott sei Dank."

Nach einer Weile lösten sich die beiden, standen auf, um wieder nach drinnen zu gehen, wo Passi mittlerweile auf der Couch saß und ihnen besorgt entgegen sah.

Verunsichert erwiderte Leo seinen Blick, bevor sie nuschelte: "Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt hab."

"Hauptsache du sprichst wieder," erwiderte dieser mit einem leichten Lächeln der Erleichterung auf den Lippen.

Das dachte sich auch Julien, der den Arm um ihre Schulter gelegt hatte und ihr einen Kuss auf die Schläfe gab. Sich an ihn schmiegend verkündete ihr Magen, eine gähnende Leere, die er zu füllen verlangte und ließ die beiden Männer damit Lachen.

"Hunger?" fragte Julien sie daher, was sie mit einem Nicken bestätigte. Da Passi und Julien sie daraufhin argwöhnisch ansahen fügte sie noch ein schnelles: "Ja" hinzu. "Dann sollten wir vielleicht was zu Essen machen," schlug Julien vor. "Passi isst du mit?"

"Nein danke," winkte dieser ab. "Ich mach mich wieder."

Zu dritt gingen sie zur Tür, wo Passi von Julien und Leo verabschiedet wurde, bevor die beiden sich in die Küche begaben, um dort einen Blick in das Eisfach zu werfen.

"Pizza?" bot Julien an. "Oder wir bestellen was. Das wären die schnellsten Optionen."

"Dann Pizza."

Julien holte zwei aus dem Fach, entledigte sie ihrer Plastikumhüllung und schaltete den Ofen an, in die er die beiden Hefemahlzeiten legte.

"Dauert allerdings noch etwas," gab er enschuldigend von sich.

"Das macht nichts." Leo hatte sich neben den Ofen an die Arbeitsplatte gelehnt und ihre Hände an dieser ab gestützt, während sie ihm zu gesehen hatte.

"Ich bin verdammt froh, dass du wieder redest," gestand Julien leise, während er sie in den Arm nahm.

Die Arme ebenfalls um ihn schlingend versuchte sie sich zu erklären. "Ich konnte einfach nicht. Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast." Ihre großen Augen sahen ihn schuldbewusst an.

Die Hände an ihre Wangen legend sah er ihr in die Augen, prägte sich jede farbliche Abweichung ein, bevor er sie innig küsste.

Auf den zweiten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt