Auf den zweiten Blick

"Geb ihr Zeit!"

Ein erneutes Klingeln sorgte dafür, dass Rezo wieder in den Flur ging, um die Tür zu öffnen. Julien hörte, wie sein Freund sich kurz darauf mit jemanden unterhielt und kam mit zwei Polizisten im Schlepptau wieder ins Wohnzimmer, von denen einer Julien gleich bekannt vorkam.

"Oh, hallo Herr Bam," begrüßte dieser ihn auch. "Kommissar Kemicz, erinnern sie sich? Ich war bei dem Vorfall am Freitag im Dienst."

"Ja, ich erinnere mich," bestätigte Julien. "Haben sie Tom und Jan fest genommen?"

"Ja, die Herren befinden sich beide in Gewahrsam." Diese Antwort ließ Julien erleichtert die Luft ausstoßen. "Allerdings mussten wir beide Herren erst mal ins Krankenhaus bringen lassen. Sie haben da gute Arbeit geleistet," gab Kommissar Kemicz zu. "Des weiteren mussten wir ihre Tür aufbrechen, um uns Zutritt zu verschaffen."

"Ähm, ja. Tut mir leid, Ich hatte abgeschlossen, damit die nicht fliehen können und den Schlüssel dann mitgenommen," versuchte Julien zu erklären.

"Sie müssen sich nicht entschuldigen," beruhigte ihn der Kommissar. "Das war eine sehr gute Idee und geistesgegenwärtig von ihnen. Können sie uns sagen, was genau passiert ist?"

"Zum Teil. Also ich wollte den Müll raus bringen," fing Julien an, "da hab ich hinter mir irgendwas gehört. Und als ich mich dann umgedreht hab stand Tom vor mir. Ich weiß noch, dass er mir mit irgendwas eine über gezogen hat, dann ist erst mal nichts. Als ich zu mir gekommen bin lag ich im Flur auf dem Boden und kurz darauf hat Leo geschrien. Ich hab Jan gegen sein Knie getreten, bin auf gesprungen und hab seinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Da kam auch schon der nächste Schrei von ihr." Kurz machte Julien eine Pause, als er an das Bild denken musste, was sich ihm im Garten geboten hatte. In dem Moment, wo das alles passiert war hatte er es nur am Rande realisiert, jedoch nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt erst wurde ihm klar, was da eigentlich passiert war und fast noch geschehen wäre. Sein Blick ging zu Leo, deren Verband bereits fertig angelegt war. Wenn er nur etwas später wieder zu Bewusstsein gekommen wär ... "Ich bin in den Garten, gerannt, wo ihr Schrei herkam," redete Julien leise weiter, sodass der Kommissar genauer hin hören musste, um ihn zu verstehen, als Julien seinen Blick wieder auf die beiden Polizisten lenkte. "Tom hat über ihr gekniet und ihr versucht das Shirt aus zu ziehen." Erneut musste Julien eine kurze Pause machen, in der er sich mit der rechten Hand über das Gesicht fuhr. "Bei mir zu Hause hatte sie nur das Shirt an, die Trainingshose hat sie erst hier von Rezo bekommen. Ich hab Tom dann einen Kick auf die Leber verpasst, damit er von ihr runter kam. Dann hab ich Leo hoch gezogen und wir sind hierher gerannt."

Auch die beiden Polizisten atmeten hörbar durch, bevor Kommissar Kemicz Julien wieder ansprach. "Das haben sie gut gemacht Herr Bam. Da werden einige Strafpunkte auf die beiden Herren zukommen. Gut, dann würden wir jetzt noch kurz mit ihrer Freundin sprechen und ..."

"Sie werden aus ihr nicht viel raus bekommen," unterbrach Julien ihn. "Sie ist ... etwas neben der Spur seit dem Ganzen."

Nachdenklich sah der Kommissar erst zu Leo, bevor er das Wort an den Sanitäter richtete, der Julien behandelt hatte und etwas seitlich stand.

"André? Wie sieht es mit der jungen Frau aus?"

André kam darauf die paar Schritte auf die drei zu, bevor er leise zu erklären anfing. "Sie scheint wohl psychisch zu sein. Zusätzlich hat sie eine Fraktur des linken Handgelenkes. Wir werden beide mit ins Krankenhaus nehmen, da Leo sagte einer der Angreifer hätte Julien einfach fallen lassen."

"Okay, ihr fahrt in die Uniklinik?" erkundigte der Kommissar sich.

"Ja."

Nach kurzem Überlegen wandte Kommissar Kemicz sich wieder an Julien. "Dann fahren sie erst mal ins Krankenhaus und lassen sich versorgen. Sobald sie näheres wissen oder entlassen werden, melden sie sich bitte auf der Wache." Damit holte er eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche, die er Julien überreichte.