Hilfe!

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Wie Leo erwartet hatte war ihr Verschwinden unbemerkt geblieben. Sie ging erst mal hoch in ihr Zimmer, wo sie sich noch etwas hin legte und ihren Gedanken nach hing. Schlafen konnte sie jetzt eh nicht mehr. Als alle später wach waren und zu Mirko ins Wohnzimmer gerufen wurden ging der Alltag der Jugendlichen wieder los. Während alle gegen 12 Uhr raus mussten ordnete Mirko an, dass Tom Leos Arm verbinden sollte, damit auch sie ihren Job machen konnte. Rücksichtslos legte er ihr einen Verband an, der Leo Tränen in die Augen schießen ließ.

"Hier," blaffte Mirko sie an, während sie noch in der Küche saß und verbunden wurde. Er legte ihr einen Umschlag auf den Tisch. "Selber Auftrag wie Dienstag," wies er an. "Und diesmal brauchst du keine sechs Stunden, klar?" Nickend nahm Leo den Umschlag und steckte ihn in die Innentasche ihrer Jacke. Wieso schon wieder Aachen? Was wollte ihr beschissenes Schicksal von ihr, dass es sie schon wieder nach Aachen verschlug? Wenn es ihr was sagen wollte, dann doch bitte in ganzen Sätzen und nicht mit ständigen kleinen Zufällen.

Als Tom fertig war zog Leo sich wieder ihre Lederjacke an und machte sich auf den Weg zum Hauptbahnhof, um dort mit dem Zug nach Aachen zu fahren. Ohne Probleme erreichte sie die Kneipe, wo sie auch schon das letzte Mal das Päckchen ab gegeben hatte. Leo hatte Glück und der Typ, dem sie beim letzten Mal das Portemonaie geklaut hatte war nicht da. Eilig machte sie sich dann wieder zurück nach Köln, wo Tom sie mit einem hämischen Grinsen begrüßte. Er saß auf der Couch, die der Wohnzimmertür gegenüber stand und glotzte irgend eine bescheuerte Seifen Oper, die in dem Flimmerkasten lief. Verunsichert ging Leo in die Küche, wo Mirko war. Wieso war Tom eigentlich nicht am Dom, so wie er es sonst war, wenn die anderen draussen waren. Heute war Samstag, das war der Tag, an dem sie die meiste Beute machten. In der Küchentür blieb sie stehen und sah zu Mirko, der von seinem Platz am Tisch aufsah, während er mehrere Päckchen Dope vorbereitete.

"Du gehst heute mit Jenny," sagte er kalt und ließ Leo erstarren.

"Nein," hauchte sie nur. Deswegen war Tom also hier und hatte sie so hämisch angegrinst.

"Du wirst dir was zum anziehen organisieren. In einer Stunde bist du wieder da." Mehr hatte er scheinbar nicht zu sagen, denn er wandte sich wieder seinen Päckchen zu. Als Leo sich immer noch nicht bewegte wurde sie an ihrem verletzten Arm von Tom nach hinten gezogen, was sie wieder vor Schmerz leise aufschreien ließ.

"Beweg deinen Arsch," forderte er sie auf und zog sie, ungeachtet der Schmerzen, mit sich. Zusammen verließen sie das Haus und machten sich auf den Weg in die City, wo Leo sich ein Kleid organisieren sollte. Im ersten Geschäft suchte Tom ein Kleid für sie aus, was mehr Haut zeigte als Leo es je zulassen würde. "Hier, anziehn," wies er sie an. Fieberhaft überlegte Leo, wie sie Tom und dem anstehenden Horrortrip entgehen konnte, als sie das Kleid entgegen nahm und damit in der Umkleide verschwand. Hier, in dem Geschäft, hatte sie keine Möglichkeit, das war ihr klar. Und sie musste sich auch eingestehen, dass sie vielleicht doch Hilfe brauchte. Während sie sich auf die Lippen biss holte sie ihr Handy hervor und entsperrte es hastig. Schnell tippte sie eine Nachricht. Und sie enthielt nur sechst Wörter.

>>> Hilfe. Bamschool. In 30 Minuten. Leo. <<<

Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Julien sie las, sein Wort hielt und sie es schaffte vor Tom zu fliehen. Das waren drei Dinge, die alle auf einmal klappen mussten.

Mit dem Kleid in der Hand kam sie wieder aus der Umkleide und drückte es Tom in die Hand. Angepisst biss er die Zähne zusammen und sah sie wütend an.

"Ich hab gesagt anziehn."

"Hier sind überall Kameras und kein Hinterausgang," versuchte sie mit ruhiger Stimme zu sagen. "Wir müssen wohin, wo viele Leute sind und es einen Hinterausgang gibt. Ich kann mit dem Ding wohl schlecht durch die Sensoren."

Zähne knirschend nickte Tom, hängte das Kleid wieder zurück und griff sie wieder grob an ihrem verletzten Arm. Erneut stiegen Leo Tränen in die Augen und sie könnte schwören, dass er das mit Absicht tat, weil sie seinen Plan nicht umsetzen wollte.

"Wir geh'n zu Primark," zischte er und Leo dachte sich nur 'perfekt'. Denn dort kannte sie sich aus und sie wusste, wie sie von dort verschwinden konnte. Sie schoben sich durch die Menge und betraten den Primark durch den Eingang im Erdgeschoss. Wie nicht anders zu erwarten war es hier total überfüllt und Leo suchte sich auf die schnelle ein superkurzes Kleid aus, was ihr bestimmt zwei Nummern zu klein war. Aber das war genau der Zweck des Ganzen. Mit Tom im Schlepptau ging sie auf die Umkleide zu, ließ sich den Chip dafür geben und betrat eine Kabine. Nur kurze Zeit später ging sie wieder zur Abgrenzung der Umkleide vor, ohne das Kleid anprobiert zu haben.

"Das ist zu klein, ich brauch's ne Nummer größer," sagte sie zu Tom, der knurrte.

"Beweg deinen Arsch keinen Millimeter." Mit diesen Worten drängelte er sich zurück durch die Menschenmenge. Kaum dass er aus Leos Sicht war rannte sie aus der Umkleide, bog direkt links ab und drückte den Hebel oben an der Sicherungstür auf, durch die sie hindurch schlüpfte. Jetzt hieß es sprinten und den Schmerz im Arm ignorieren. Sie rannte bis ganz nach unten und verließ den Komplex durch den Hintereingang, der für die Warenannahme war. Genauso schnell rannte sie weiter, bis zum Mediapark, ohne an zu halten. Rennen, das konnte sie. Denn das war etwas, was bei ihrem Job notwendig war. Als sie die Bamschool sah rutschte ihr ihr Herz in die Hose. Es war kein Julien da. Die Tränen, die ihr nun in die Augen traten kamen nicht durch den Schmerz im Arm, sondern aus Verzweiflung. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein zu glauben, dass er ihr helfen konnte? Oder wollte. Langsam ging sie ins Innere des Gebäudes, wo sich die Bamschool über die linke Seite erstreckte. In der Mitte führte eine Treppe nach unten, genauso wie ein Aufzug. Ein Blick nach unten zeigte ihr, dass sich die Bamschool auch im Untergeschoss befand, daher nahm sie die Stufen dorthin.

"Wow," entfuhr es ihr, als sie die Bilder an den Scheiben sah, die sich nun um den kompletten Kreis zogen. Die Bamschool umfasste also den ganzen unteren Bereich. Das Ding musste riesig sein. Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen die Scheibe, die dem Aufzug direkt gegenüber lag und rutschte an ihr herunter. Verzweifelt zog sie ihre Beine an, legte ihren linken Arm darauf und den Kopf auf den Arm. Was sollte sie jetzt nur machen? Hier in Köln konnte sie unmöglich bleiben. Mirko würde sie sofort finden und dann war sie so gut wie tot.

Auf den zweiten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt