39. Aus Liebe gewachsen, aus Liebe gewählt

24 3 0
                                    

Zoe

Während mein zweites Ich meinen Freunden nachblickt hoffe ich, dass ich ihnen zur richtigen Entscheidung geraten habe. Nachdem ich zu Licht wurde, wurde alles um mich herum wieder klarer und ich konnte Zane, Marie und Lucretia wieder gut verstehen. Dann, als Zane mich, also das Licht, bemerkt hat und Marie etwas von einem anderen Licht geredet hat, wurde mir klar, was meine Aufgabe ist. Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, wie ich die Prophezeiung deuten muss. Die erste Zeile: „In Liebe gewachsen" ist eine der am schwierigsten zu deutenden Stellen. Aber sie könnte für die Liebe unserer Eltern stehen und damit auch für Lamia, die uns genau deswegen angegriffen hat. „In Liebe gewählt" steht wohl dafür, dass ich die Prüfung gewählt habe, die mir der Gott der allumfassenden Liebe angeboten hat. Aber auch dafür, dass ich aus der Liebe zu meinen Begleitern die Entscheidung getroffen habe mein Lebenslicht für sie als Wegweiser zur Verfügung zu stellen. Also zumindest glaube ich, dass es mein Licht ist und ich glaube auch, dass dies die eigentliche Prüfung ist, die mir Eros gestellt hat. „Das euer Schicksal mehr als euer Leben zählt." Jeder von uns war auf diesem Auftrag schon in Gefahr. Bis jetzt haben wir alles überlebt, aber ich bin mir nicht sicher, wie lange dieser Nebel, der meine Wunden schließt, mich noch am Leben hält. Trotzdem sind Marie, Zane und Lucretia nun auf dem Weg unser Schicksal zu erfüllen. Die ganze Zeit über hat es schon mehr als das Leben des Einzelnen gezählt.

Soweit bin ich nun mit meiner Interpretation, aber weder Eros noch irgendeine Prüfung hat sich bisher bemerkbar gemacht. Nachdem die Anderen gegangen sind, bin ich zurück in diesen komischen Zustand gekehrt, in dem ich alles nur wie durch eine Milchglas Fensterscheibe mit Schalldämpfung wahrnehme. Nicht, dass irgendwas passiert wäre. Durch meine Körperlosigkeit spüre ich das Adrenalin des Kampfes nicht mehr, ebenso wie die Müdigkeit, denn mein Geist kann wohl nicht müde werden. Ob sich Lucretia andauernd so fühlt? Ich schüttle den Kopf, den ich eigentlich gar nicht besitze. Ohne Körper, kein Kopf. Vielleicht ist meine Prüfung ja, das ganze zu überstehen, ohne das ich verrückt werde. Wenn ja, dann sieht es ziemlich schlecht aus. Bei den Gedanken, die mir durch den Kopf schießen. In dem Moment verändert sich meine Umgebung. Auch wenn ich eigentlich nichts spüren sollte merke ich, wie es wärmer wird. Gleichzeitig verändert sich die Luft, sie wird ein wenig modriger. Auch das, was ich sehe, verändert sich. Die Wände des Labyrinths verschwimmen vollkommen und machen einer grauen Ödnis Platz, die aber von überall mit goldenen Fäden verwoben zu sein scheint. Mitten in dieser Landschaft steht ein Mädchen. Sie dürfte zwei bis drei Jahre jünger als ich sein. Zumindest wenn man nach dem Bau ihres Körpers und ihres Gesichts geht. Ihre schwarzen Haare sind zu zwei geflochtenen Zöpfen gebunden, die sie noch Kindlicher erscheinen lassen. In dem komischen Licht hier haben sie allerdings einen unheimlichen roten Schimmer. Ähnlich wie ihre Augen, die zwar braun sind, alle paar Sekunden aber gelb aufleuchten, ich schiebe es auf einen Lichtreflex.

Eine Weile mustern  wir uns schweigend. Unter ihrem Blick fühle ich mich unwohl. Es ist, als würde sie mich von vorne herein bewerten. Erst jetzt kommt mir der Gedanke, dass es sich bei ihr vielleicht um eine Göttin handelt. Götter können schließlich jede beliebige Form annehmen und somit auch jedes Alter haben. „Warum bist du hier?" Rutscht es mir so raus. Irgendwie gehe ich bei jeder Begegnung mit einem Gott eine Stufe hinunter. Vom „ihr" zum „sie" und nun zum „Du". Immerhin kann sie mich in dieser Form nicht komplett töten oder in etwas anderes verwandeln, glaube ich.

Nun fängt auch sie an zu sprechen und ich sehe meine Vermutung bestätigt, das es sich bei ihr um eine Göttin oder meinetwegen einen Gott handelt. Denn sie klingt überhaupt nicht wie die Stimme einer zehn- oder elfjährigen, dafür klingt sie zu erwachsen und auch zu weise. Damit stehen Körper und Stimme in einer solchen Dissonanz zueinander, das die Gott/Göttin Sache für mich die einzige Erklärung ist. Zumindest, bis ihre Worte zu ihr durchdringen: „Wahrscheinlich aus dem selben Grund wie du." Sagt sie und schaut mir dabei in die Augen, die immer noch andauernd in einem Farbton zwischen gelb und gold aufleuchten. „Du hast auch eine Prüfung von Eros angenommen?" Frage ich daraufhin wenig einfallsreich. Aber diese Lichtreflexe irritieren mich. Das Mädchen lacht und schüttelt dann den Kopf. „Nein," sagt sie: „Ich bin mir im Moment nicht einmal sicher, welcher Gott das überhaupt ist." Wir sind also auf einer Ebene, zumindest was Götter anbelangt. „Ich habe damit gemeint, dass du ebenfalls in diesem verrückten Bereich bist, der sich zwischen Leben und Tod befindet." Während sie das sagt deutet sie einmal komplett um sich herum auf diese ganze öde Landschaft. „Du meinst, du liegst gerade auch irgendwo und bist fast am verbluten?" Theoretisch könnte sie auch in einem Krankenhausbett einen Herzinfakt oder sowas haben. „Irgendwie schon, abgesehen von dem Fakt, dass ich schon eine ganze Weile tot bin." Sie sagt es einfach so, als wäre es nichts Besonderes. Als wäre jeder zweite Amerikaner oder so bereits einmal gestorben. „Das heißt du bist ein Geist." Schließe ich daraus, wie sie wohl noch einmal auf die Erde gekommen ist. Soweit ich weiß achten Hades und Thanatos sehr darauf, dass die Toten bleiben wo sie sind. „Und du bist Zoe, das Mädchen mit den Kräften des Poseidon und mit dem Gedächtnis der Athene." Stellt nun das Mädchen wieder fest und ich zucke zusammen. Woher weiß sie das und was soll das eigentlich genau bedeuten? Als es meinen erschrockenen Blick sieht lacht das Mädchen erneut. „Ich habe mich in der letzten Zeit sehr intensiv mit euch und eurer Welt beschäftigt. Da lernt man so einiges." Dann streckt sie mir die Hand hin: „Ich bin Emilia und falls wir das überleben werden wir uns sicher bald auch in der normalen Welt treffen." Sagt sie und ich ergreife immer noch geplättet ihre Hand. In dem Moment in dem ich das tue verändert sich unsere Umgebung erneut. Sie scheint von innen heraus zu zerbrechen. Das hat Emilia also mit ihrem „Falls wir das überleben" gemeint.

Zane & Zoe - die zerbrochene GöttinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt