34. Verärgere die Wände nicht, sie entscheiden wo's lang geht

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Zoe

Als ich unten ankomme bin ich erstmal nur erleichtert aus der dicken Suppe raus zu sein, die oben über das Land zieht. Dann wird mir aber wieder klar, wo ich mich befinde. Das hier ist das Labyrinth des Dädalus, gebaut um alle zu verwirren, die es betreten. Laut den Erzählungen hat es ein eigenes Bewusstsein, das seit seiner Wiedererweckung allerdings freundlicher sein soll. Doch bin ich mir nicht sicher, ob das jemals jemand wirklich getestet hat.
Nachdem ich mir jetzt wieder schön Angst gemacht habe, schaffe ich es endlich mich umzuschauen. Die Wände sind grau und trostlos und der Weg gabelt sich wenige Meter nach unserem einstieg. Ein Symbol ist neben die Leiter eingeritzt. Ich erkenne den griechischen Buchstaben Delta, das Symbol des Labyrinths. Dann fällt mir auch endlich wieder ein, dass wir ein klein wenig Zeitdruck haben. Schnell schaue ich zu Zane und Marie, die sich ebenso staunend umsehen, wie ich das gerade noch getan habe. Marie umklammert dabei immer noch das Knäul von Kalypso, so fest, dass ihre Finger weiß hervortreten. Ich mache sie darauf Aufmerksam und sie Bindet den Faden an einer der Sprossen fest. Dann gehen wir nur in dem Licht, dass Maries Sensenteil spendet, los.

Mal wieder heißt es laufen, ich glaube ich bin in der letzten Woche so viel gelaufen wie in meinem gesamten vorherigen Leben. Aber was bleibt uns übrig? Eine Weile laufen wir schweigend an der Wand an und nehmen abwechselnd die rechte und die linke Abzweigung. Dann kommen wir in eine Sackgasse und müssen den Faden bis zu nächsten Abzweigung aufrollen. Irgendwie wird das Knäul nicht dünner, es scheint wohl nicht nur in einer Weise verzaubert zu sein. „Was hast du eigentlich gesehen, dass du dir so sicher bist, dass wir zurück müssen?" Frage ich meinen Bruder, als wir das zweite Mal zurückmüssen. Mir ist nicht ganz wohl dabei, das Labyrinth ist unheimlich ruhig. Es scheint, als hätten die Wände Ohren, die nur darauf warten etwas zu hören, was uns vernichten kann. Auch die Zeit ist hier schwierig, wir haben es schon vorher gewusst, aber das macht es nicht besser. Ich habe mein Zeitgefühl komplett verloren und Uhr haben wir keine dabei. Während Zane zumindest ein wenig von seinem Traum erzählt, schweife ich ab. Mir fällt auf, dass sich Lucretia seit dem Wolfshaus nicht mehr gezeigt hat. Meine Hände gleiten zu dem unförmigen Teil in meiner Tasche. Bevor ich gegen den Baum geschleudert wurde, hatte ich eine Idee, wie ich es leichter dazu bringen könnte, sich zu verwandeln. Das weiß ich noch, aber wenn ich versuche mich daran zu erinnern, wie diese Idee aussah, dann ist da nur ein großes dunkles Loch.
„Oh, Besuch!" Kreischt plötzlich eine Stimme und unterbricht Zane, der gerade das Mädchen aus seinem Traum beschreibt. Es ist wieder etwas heller geworden und so kann ich die Gruppe, die nun um die Ecke biegt gut erkennen. Es sind drei Personen, junge Frauen wie es aussieht. Sie alle sind sehr schön, aber irgendwas scheint mit ihnen nicht zu stimmen. Auf eine gruselige Art und Weise erinnern sie mich an Lamia. So wie der Nebel um sie herum wabert...
Wo kommt der eigentlich wieder her? Gerade eben war er jedenfalls noch nicht da. Ich schaue genauer hin und sehe immer Stellen, an denen der Nebel mit den Wänden und den Frauen verschmilzt oder wieder zu Tage tritt. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist Nebel in der Welt der griechischen und römischen Mythologie auch die Bezeichnung für eine Art von Schleier, der die Wirklichkeit verdeckt und vereinfacht. „Schau genau hin!" Flüstert eine Stimme und vor meinen Augen verschwimmen die Konturen der Frauen. An ihre Stelle treten Kreaturen mit weißer Haut, flammenden roten Haaren, einem Eselsbein und einem Bein aus Bronze. Wie von selbst gleicht mein Kopf diesen Anblick mit meinem Wissen über die griechische Mythologie ab, während ich zu Zane und Marie schaue. Mein Bruder ist in seiner Erklärung verstummt. Er starrt die drei Kreaturen an und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Dieses Mal scheint er die Tarnung nicht zu durchschauen, vielleicht weil diese Wesen wohl eher weniger mit Wasser und Poseidon zu tun haben. Dafür aber mit Angehörigen des männlichen Geschlechts und plötzlich macht es bei mir klick. Diese Schlussfolgerung, der Nebel und die Tatsache, dass auch Marie vorbehalte gegen die drei Kreaturen zu haben scheint, fügt sich in meinem Kopf zu einem Bild zusammen. Bei den drei Wesen handelt es sich um Dienerinnen der Hekate, sogenannte Empusen. Sie gehören so weit ich weiß zu den Vorbildern für moderne Vampire und sie haben es eigentlich nur auf männliche Wesen abgesehen. Vielleicht hat Zane deshalb mehr Probleme sie zu durchschauen, wie wir. „Hallo ihr Süßen, habt ihr euch verlaufen?" Fragt die erste Empusa, sie trägt ein wirklich schönes Kleid, zumindest wenn man auf alte Kostümfilme steht. Mit dem breiten Reifrock sieht sie fast ein wenig aus wie Elisabeth I von England. Zumindest wird dieser sie aber beim Kämpfen behindern, was unsere Überlebenschancen steigert. „Nein, wir wissen sehr genau wo es lang geht!" Marie verstärkt den Griff um das Knäul und vielleicht ist es nur eine Lichtspiegelung, aber für einen Moment beginnt der aufgewickelte Faden schwarz zu werden. „Das muss euch nicht peinlich sein, wenn ihr uns sagt wo ihr hin müsst, dann können wir euch vielleicht helfen." Erwidert nun die eine andere Empusa, auch sie trägt ein Kleid, es ist aber wesentlich kürzer. Außerdem funkelt ein Dolch an ihrem Gürtel. Sie muss wohl freundlich lächeln, aber ohne den Nebel ist es eher ein blutgünstiges Grinsen. „Wieso wollt ihr uns helfen?" Fragt Marie skeptisch. „Aber wieso sollten sie uns nicht helfen?" Ergreift mein Bruder Partei. Er scheint wirklich nicht durch den Nebel schauen zu können. Vielleicht liegt es daran, dass er zur natürlichen Zielgruppe der Empusen gehört, vielleicht liegt es auch an was anderem. Die Luft ist zum schneiden Dick, während meine beste Freundin und mein Zwillingsbruder versuchen sich mit Blicken zu ermorden. Bis vor kurzem wäre das nicht schlimm gewesen, aber jetzt ist Marie trotz allem eine Tochter des Thanatos. Ob sie einen wirklich mit Blicken töten kann will ich lieber nicht ausprobieren.

Zane & Zoe - die zerbrochene GöttinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt