22. Schatten der Vergangenheit

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Zane

„Was verheimlicht ihr vor mir?" Meine Schwester hat die Hände in die Hüften gestemmt und der Feuerschein gibt ihr etwas gefährliches. Seit der Begegnung mit der Königin der Götter hat sie nichts mehr gesagt. Den ganzen Tag ist sie einfach schweigend hinter Marie und mir her gelaufen und hat nicht einmal zugehört, als die Sprache auf sie kam. Das sieht meiner Schwester so gar nicht ähnlich. Irgendwann ist sie sogar in Marie hineingelaufen und seit dem ist sie leider wieder aufmerksamer geworden. Sonst hätte sie nicht gemerkt, wie Marie und ich uns die ganze Zeit über unsere Blicke gestritten haben, wer es ihr sagt. Schon während unseres Fußmarsches sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist Zoe jetzt die Wahrheit zu sagen. Wir konnten uns nur nicht entscheiden, wer es macht. Jetzt müssen wir uns auch darüber einigen. Ein Blick zu Marie zeigt mir, dass sie Standhaft bleiben wird. Na toll, jetzt bleibt die ganze Erklärung an mir hängen und die Wut meiner Schwester natürlich. Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten. „Es geht um den Unfall." Es kostet mich unglaublich viel Kraft diese Worte herauszubringen. Dagegen ist das Kraftaufkommen für eine Welle lächerlich gering. Fast hoffe ich, dass Zoe nicht weiter nachfragen wird. In all den Jahren haben wir dieses Thema grundsätzlich gemieden. Es war eine Last und wie schwer diese war wird mir erst jetzt bewusst, das ich einen Teil von ihr losgeworden bin. Auch Zoe scheint überrascht zu sein, dass ich ausgerechnet dieses Thema zur Sprache bringe. Mitten in einem Wald und mit einem Lagerfeuer als einzige Lichtquelle. Die Hoffnung, dass sie keine weiteren Fragen stellt verstärkt sich, während die Stille sich in die Länge zieht. Ich will gerade das Thema wechseln, als ich ihren Blick erneut auffange. „Ich muss wissen, was damals passiert ist, bitte!" Sofort strömen die Bilder wieder in mir hoch. Wie sie damals da lag, sie war so zerbrechlich. Es hat uns alle verändert und ich glaube unsere Eltern, oder was auch immer, hat es am schwersten getroffen. Sie waren damals wie ausgewechselt, haben andauernd hinter verschlossenen Türen geredet. Manchmal haben sie auch geweint. Die Ärzte haben gesagt, dass es unwahrscheinlich war, dass sie überlebt. Wir standen vor dem, was von unserem Leben übrig war und wussten nicht, was wir machen sollten. Wie soll ich meiner Schwester sagen, dass sie damals fast gestorben wäre?

„Der Lokführer kam damals ums Leben. Es gab mehrere Schwerverletzten. Zwei Fahrgäste verstarben im Krankenhaus. Marie war mit einem Schock und mehreren angebrochenen Rippen davongekommen. Mir ging es schlechter, aber ich war nie in Lebensgefahr. Die Einzige, die wirklich schlimme Verletzungen hatte warst du. Es stand richtig schlecht um dich und die Ärzte waren sich nicht sicher, ob du es schaffen würdest. Dein Zustand hat sich immer mehr verschlechtert und wir dachten echt, dass du nicht mehr aufwachst. Dann hat er sich wieder rapide verbessert. Die Ärzte haben von einem Wunder gesprochen. Als du dann wieder aufgewacht bist war alles fast wieder wie zuvor. Ich glaube ich habe Mum und Dad nie so erleichtert gesehen." Fasse ich also in abgehakten Sätzen zusammen. Dabei droht meine Stimme immer wieder zu brechen und ich muss mich dazu zwingen weiterzusprechen. Ich will es endlich hinter mich bringen. Diese Last liegt schon so lange auf mir und Zoe hat ein Recht darauf es zu erfahren. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen ihr das ganze behutsamer beizubringen. Aber die ganze Sache nimmt mich einfach noch zu sehr mit. Ich weiß nicht, was noch kommen wird, doch ich kann mir im Moment nicht vorstellen, dass irgendwas schlimmer sein kann. Die Schmerzen, die Angst. Ich habe noch mitbekommen, wie der Zug sich überschlagen hat und alle durcheinander geflogen sind. Wir mussten damals einen Schutzengel gehabt haben, es gibt nicht viele solcher Unglücke mit so vielen Überlebenden. Marie war zwischen den Sitzen festgeklemmt. Und Zoe lag irgendwo neben mir. Ich hatte Schmerzen, unerträgliche Schmerzen. Aber Zoe lag in meinem Blickfeld und ich konnte nicht erkennen, ob sie noch geatmet hat. Unser Verhältnis war von klein auf zerrüttet. Wir hatten genau an diesem Tag schon gestritten. Aber wie ich da so da lag wurde mir klar, dass ich sie trotzdem brauchte und immer noch brauche. So bin ich wenigstens nicht der einzige mit dem komplizierten Familienverhältnis. „Gib acht kleiner Held. Du wirst nicht die Kraft haben dich gegen mich zu stellen. Du wirst niemals die Leute finden, die du dafür brauchst." Ich habe die Stimme ganz deutlich vernommen, bevor ich dann endlich auch bewusstlos geworden bin. Auf der Lichtung ist es still geworden. Nur das Feuer knistert und sein flackerndes Licht erweckt die Bäume um uns herum zum Leben. Die griechische Göttin des Herdfeuers ist Hestia. Da bin ich mir relativ sicher. Ob sie auch jetzt auf uns acht gibt? In Zoes Augen machen Tränen. „Hab keine Angst kleine Heldin, denn du wirst nicht lange genug leben um dein Schicksal zu erfüllen." Murmelt sie mit erstickter Stimme. „Er hat es mir direkt davor gesagt." Trotz der Tatsache, dass wir Sommer haben, ist es auf einmal kalt auf der Lichtung. „Sie werden untergehen und du wirst nur zuschauen können. Fürchte dich kleine Heldin, wenn die Zeit für sie gekommen ist." Marie schaut nachdenklich in die Feuer. „Da war eine Stimme, am Abend bevor wir losgefahren sind. Ich wusste, dass etwas passieren wurde und dann schien sich alles zu bewahrheiten." Sie schüttelt den Kopf und greift nach Zoes Hand. Diese schaut ihre Freundin überrascht an. „Du hast ihn auch gesehen?" Fragt sie. Marie schüttelt den Kopf: „Ich habe nur diese Stimme gehört, gesehen habe ich nichts." „Die Stimme habe ich auch gehört." Alle Köpfe fahren zu mir. „Gib acht kleiner Held. Du wirst niemals den Mut haben dich gegen mich zu stellen. Du wirst niemals die Leute finden, die du dafür brauchst." Rezitiere ich. Wir alle hatten diese Begegnung mit dieser Stimme. All die Jahre dacht ich, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Und jetzt das. Ich rutsche meinerseits näher zu meiner Schwester und so sitzen wir da, starren in die Nacht und hängen unseren Gedanken nach.

Zane & Zoe - die zerbrochene GöttinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt