walls and rules

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Es ist nicht besonders leicht, sich eingestehen zu müssen, dass etwas mit einem nicht stimmte. Trotz dem ich mit aller Macht versuchte, mir klar zu machen, dass ich einfach nur etwas Ruhe brauchte und von meiner Familie weg musste, waren zwei Aussetzer in der kurzen Zeit doch etwas heftig. Noch immer stand ich einfach da und sah das Chaos an, das Florian und ich in meinem Zimmer angerichtet hatten. Immer wieder krochen Bilder aus meiner Vergangenheit in mein Gehirn, wie ein lästiges Sodbrennen. Mein Herz raste und obwohl ich es besser wusste, ignorierte ich mein klingelndes Handy. Ich hätte mit Hilfe von Laura schon längst weg sein können, aber etwas hielt mich hier. In den Scherben konnte ich nichts erkennen, dass es hätte sein können. Erst als Schritte die Treppe herauf kamen, dämmerte es mir langsam. Jeder Muskel spannte sich in meinem Körper an, aber ich lief nicht hinüber und schloss die Tür. Und da stand er schließlich. Florians dunkle Haare standen ihm in alle Richtungen ab und er war noch immer leichenblass. Der Schock von vorhin steckte ihm offensichtlich noch in den Gliedern. Seine Hände steckten in den Hosentaschen und er blieb einen Meter vor der Tür stehen. Etwas seitlich zu mir und die Schulter zusammengefallen. Nicht ein Mal wagte er es, mir in die Augen zu sehen. Sofort schossen mir Tränen in die Augen. Er war mein Bruder. Und ihn so zu sehen, zerriss mir das Herz. Vor allem, weil ich an diesem Zustand Schuld war. 
"Du weißt doch, weshalb ich auf die Regeln bestehen muss, Sarah.", begann er, ohne mich anzusehen. Seine Stimme leise, aber in keiner Weise bedrohend. Ich blinzelte die Tränen hinweg und leckte mir über die Lippen. Es würde also eines dieser Gespräche werden. Wieder klingelte mein Handy und ich blickte kurz darauf. Misha. Mein Herz blieb einen Moment stehen und ich blickte zu Florian auf und ja- er sah mich jetzt direkt an. Ein schiefes Lächeln auf den Lippen. 
"Und du weißt, weshalb ich das verhindern muss."
"Du musst gar nichts.", gab ich zurück. 
"Du hast keine Ahnung, was ich muss!", schrie er und ich zuckte zusammen. Er hatte sich nicht vom Platz bewegt. Ein Zeichen dafür, dass er momentan er selbst war. Oder anders gesagt: Sich selbst unter Kontrolle hielt. Ich leckte mir über die Lippen. Unschlüssig, was ich sagen oder tun sollte. Ich blickte wieder auf das Handy. Mishas Nachricht: "Gut angekommen, Engel?" Laura und Julia wollten auch wissen, wie es mir ging. Als ich wieder aufsah standen schon wieder die Tränen in meinen Augen und auch Florian sah ich an, dass er nicht wütend, sondern verzweifelt war. Er strahlte seine Verlorenheit so heftig aus, dass es mir zusätzlich weh tat. Automatisch huschten meine Finger zu der Kette meiner Mutter und ich nutzte die Kraft, die es mir gab. Vorsichtig ging ich auf ihn zu, blieb aber stehen, als er sich von mir weg drehte. 
"Wir müssen Schluss machen, Flo.", brachte hervor, "Das hier muss ein Ende haben."
Er zuckte mit den Schultern: "Nichts hält dich auf."
"Du weißt, dass Vater schon immer einen Weg gefunden hat, mich aufzuhalten."
Einen Moment lang schien er versteinert. Dann drehte er sich noch ein Stück von mir weg, sodass er mit dem Rücken zu mir stand. Der Rücken krumm, der Kopf tief zwischen den Schultern. Die Muskeln waren so sehr angespannt, dass der Stoff über seinem Rücken Falten warf. Ich realisierte es jetzt. Das Etwas, was mich hier hielt. Was mich schon immer hier gehalten hatte. Verantwortung und Schuld. Florian. Schon immer hatte Vater es geschafft, mich hier zu halten, in dem die unausgesprochene Tatsache im Raum stand, dass Florian seine ganzen Frust, die Wut und weiß Gott noch alles abbekam. Seinetwegen hatte ich die Mauern um mich herum aufgebaut und hielt mich an Florians Regeln. Seinetwegen schaltete sich mein Unterbewusstsein aus, sobald es um Misha ging.  
Es blieb lang still und ich wartete darauf, dass er etwas sagte, aber es kam nichts. Er stand einfach nur da. Wer weiß, was ihm durch den Kopf schoss. 
"Flo.", begann ich wieder leise, "Ich weiß, dass Vater mich mit keinem Mann unter seiner Würde sehen will."
Florian atmete tief ein und aus und drehte sich langsam wieder zu mir. Seine rotunterlaufenen, roten Augen betrachteten mich müde, verbraucht und leicht belustigt. 
"Du glaubst, ich werde dir helfen?"
Ich schluckte. 
"Das hier kann relativ friedlich passieren, Florian.", ich deutete auf das Chaos um mich herum, "So muss es nicht enden."
Ein bitteres Lächeln zuckte über seine Lippen, bevor er sich wieder gerade aufrichtete, die Schultern gestrafft, die Arme vor der Brust verschränkt. Mein Herz raste vor Angst. Alles hing an seiner Entscheidung. Ich war schon kurz davor, hinzunehmen, dass ich ihn aufgeben musste, als er sagte: "Niemand, außer Vater, wird jemals gut genug für dich sein."
Seine Worte ließen mir zwar die Galle in den Mund steigen und riss mir den Boden unter den Füßen weg, aber gleichzeitig baute sich Hoffnung in mir auf. Ja- es war zwar nur ein winziges Zugeständnis, aber offenbar überließ Florian es unserem Vater, zu entscheiden.  
Als Florian ging, holte ich sofort mein Handy heraus und rief Misha an. 
"Sarah?", fragte er verwundert, "Ich hab nicht viel Zeit. Ich bin gerade-"
"Hast du demnächst Zeit?"
Er zögerte und mein Schwindel nahm zu. 
"Ist das eine Frage nach einem Date?"
Ich konnte nicht anders, als Lachen. Er nannte den falschen Menschen Engel. 
"Sozusagen." 
Er gluckste und wieder überlegte er. Es war körperlich so anstrengend, seine Antwort abzuwarten, dass ich auf mein Bett sackte. 
"Theoretisch geht es immer nach dem Dreh. Das ist aber oft sehr-"
"Wo bist du dann? In Berlin?"
"Ja- in dem Hotel. Noch."
"Morgen?"
"Sarah?", fragte er zögerlich, "Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lang, aber..."
"Ja?"
"Geht es dir gut?"
Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht vor meine Füße zu kotzen. 
"Es ist okay.", gab ich hastig zurück, "Ich erkläre dir alles, wenn du willst. Wenn wir uns sehen, ja?"
"Ich freu mich drauf!"
"Misha?", fragte ich mit rasendem Herzen. Meine Hände schwitzten und ich konnte mich kaum zusammenhalten. 
"Ja?"
Ich musste das jetzt fragen! Ich brauchte wenigstens in eine Richtung Klarheit. Grenzen und Wände, in denen ich mich bewegen konnte. Die mich nicht einengten, sondern warm und geborgen hielten.
"Wolltest du mich sehen? Wolltest du mich kennen lernen?"
Stille. Verdammt! Seit wann war Stille so schmerzvoll! 
"Seit Washington.", gab er zurück. Ein Schwall von Erleichterung durchfuhr mich und ich lachte atemlos auf. Glück! Eine warme Decke legte sich um mich. 
"Scheiße...", brachte ich hervor und Misha lachte auf. 
"Das gleiche habe ich auch gedacht. Aber weißt du was?"
"Was?"
"Ich bin froh, auf mein Bauchgefühl gehört zu haben."
Ich konnte nichts anderes tun, als da zu sitzen und vor Glück zu sprühen. Ich hielt mir meinen schmerzenden Bauch. Er schmerzte, ja, aber auf eine sehr- auf eine absolut gute Weise!  
"Ich auch, Misha. Scheiße.."
Wieder lachte er und mit seinem Lachen löste sich etwas in mir.
"Okay. Ich muss arbeiten, Engel. Wir sehen uns!"
"Auf jeden Fall!"
Er zögerte wieder und auch ich wollte es nicht über die Lippen bringen. Aber schließlich brachten wir es gleichzeitig hervor. 
"Tschüss!"
Und wir lachten zusammen. 
"Wow, was für ein Klischee!", gluckste er, "Tschüss, Sarah."
"Tschüss...", ich zögerte kurz, aber dann fand ich doch meinen Mut, "Engel."
So schnell, wie jetzt, hatte ich noch nie aufgelegt. Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich wollte den Erfolg feiern, ohne Mishas Antwort darauf hören zu wollen. Ja- er war mein Engel!
Giggelnd fiel ich zurück in mein Bett, das zum Glück frei von Trümmern geblieben war und war schlicht überwältigt von Gefühlen. Wie eine Mücke, die an der Windschutzscheibe klebte. Ja gut, vielleicht etwas weniger tot. Sogar im Gegenteil! Lebendiger, als je zuvor! Aber genau so matschig. Ja, genau so matschig. 

Ich hatte ein Date mit Misha Collins!

Little AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt