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Noch bevor wir das Krankenhaus erreichten, sprach er es an. Ich hatte gebetet, dass er unseren Streit unter den Umständen vergessen würde, aber nein.
"Du meintest, dass Vickey dir Vorwürfe gemacht hat..."
Hastig griff ich nach seiner Hand und schüttelte den Kopf. Ich wollte das Gespräch nicht führen! Er sollte nichts von dem Brief erfahren! Aber er sah mich auffordernd an und so, wie er es tat, hätte ich ihm nichts abschlagen können.
"Dass du überhaupt sprechen kannst..."
Er zog eine Augenbraue hoch: "Wenn es um dich geht?"
Ich lachte auf: "Hier geht es nicht um mich. Wer liegt mit einer gebrochenen Nase in einem Taxi?"
"Sarah, komm schon.."
Ich seufzte und wischte ihm mit zitternden Händen über das getrocknete Blut an seinen Wangen. Er sah furchtbar aus und es war meine Schuld. 
"Sie muss von mir erfahren haben.", brachte ich hervor, ohne ihn anzusehen. Stattdessen wischte ich nur immer weiter in seinem Gesicht herum. Arbeitete mich zu seinem Brustkorb herunter.
"Keine Ahnung, wie. Vielleicht hat Florian nach einer Möglichkeit gesucht, uns auseinander zu bringen?"
Ich wollte sein T-shirt hoch schieben, um nach seinem Oberkörper zu sehen. Aber hielt meine Hände fest. 
"Wir sind gleich da!", rief der Taxifahrer komplett gestresst von vorn. Das Auto legte sich in eine Kurve und dabei fiel ich auf ihn. Er unterdrückte gerade so einen Schmerzensschrei. Aber ich sah ihm an, wie er litt. Kreidebleich leuchtete seine Haut unter dem Rot des Blutes und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Noch immer hielt er meine Hände fest und warf mir einen auffordernden Blick zu. Das war doch nicht sein Ernst!
"Lass mich was versuchen, ja?", sagte ich hastig. Er keuchte schon- wie konnte ich ihn so leiden lassen? Es war mir in diesem Moment egal, wie verrückt es wirken musste. Ich rieb die Finger meiner linken Hand, bis sie leicht kribbelten. Dann legte ich meine Hand an seine Brust und schloss kurz meine Augen. Konzentrierte mich auf ihn- auf seinen Herzschlag, die immer schwächer werdende Wärme- bis es da war und meine Brust ausfüllte. Dieser zerreißende, heiße, drückende Schmerz.
"Sarah?", fragte Misha verwirrt und als ich ihn ansah, entdeckte ich die gleiche Angst in seinen Augen, wie bei Florian. 
"Nachdem du bei ihr warst und wieder zurück in deine Wohnung zu mir kamst..", fuhr ich hastig fort, um ihn davon abzulenken, was ich gerade tat. Aber diese ängstliche Verwirrung wich nicht aus seinen glasigen blauen Augen. Meine Stimme zitterte, als der Schmerz in meiner Brust immer größer wurde und mir fast die Luft raubte.
"Ich habe einen Brief in deiner Tasche gefunden. Er war an mich adressiert. Ich bin mir sicher, dass du ihn auch sehen solltest, aber das konnte ich nicht zulassen. Ich habe ihn verbrannt."
Er blinzelte. Als er merkte, dass ich fertig war, machte er seinen Mund auf und wollte etwas sagen. Stattdessen kam ein überraschtes Aufkeuchen über seine Lippen und jedes Haar stellte sich auf seinen Armen auf. Gleichzeitig machte der Schmerz in meiner Brust "Puff" und war weg. Einfach weg. Außer Atem ließ ich ihn los und fiel in das Polster zurück. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, aber ich wagte es nicht, zurück zu sehen. Aus Angst, er würde etwas in meinen Augen erkennen, was ich selbst nicht kannte. Ich griff nach seiner Hand. 
"Besser?"
Eine Weile antwortete er nicht und erst nach einer gefühlten Ewigkeit, drückte er meine Hand und gab ein überraschtes, leises "Ja." von sich. Tränen schossen mir in die Augen und Angst baute sich in mir auf. Aber was auch immer da passiert war, es hatte geholfen. Und diese Erleichterung, jemandem tatsächlich geholfen zu haben, war stärker, als die Angst. Ich lächelte, während der Taxifahrer mit quitschenden Reifen hielt und nach Hilfe brüllend aus dem Auto stieg. Misha und ich versuchten sofort, die Lage etwas zu beruhigen. Eine Frau und ein Mann in Kitteln eilten auf die Straße und als sie Misha sahen, packten sie ihn und rissen ihn aus meinen Armen. 
"Schon gut!", sagte Misha immer wieder auf deutsch. Ich dankte hastig dem Taxifahrer und drückte ihm Geld in die Hand, bevor ich Misha nach lief. Drinnen behauptete ich, er wäre ungünstig eine Treppe hinab gefallen. Sonst hätten sie womöglich das Wort "Anzeige" in den Raum geworfen und ich konnte nicht zulassen, dass Misha meinen Bruder anzeigte. Er würde so schon genug bestraft sein. 

Little AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt