Wäre es nicht schön, Träume gingen in Erfüllung? Dann wäre ich in einem Strandhaus am Meer, irgendwo weit weg. Keiner würde mich kennen, niemand vermissen, ich wäre allein. Na gut- ich gebe zu, dass ab und an ein paar blaue Augen in diesem Traum vorkamen. Aber erst, als ich ihn getroffen hatte. Davor waren mir Dinge, wie Beziehungen, nicht wichtig. Nicht so wichtig.
Vor drei Wochen habe ich ihm geschrieben, ihm geantwortet und war dabei so ehrlich ich konnte, ohne dabei verrückt zu wirken. Und nun stand ich hier in meinem Zimmer und starrte mich selbst im Spiegel an. Irgendetwas in diesem Gesicht musste mir doch eine Antwort geben, warum er mir nicht geantwortet hatte. Vielleicht mochte er keine dunklen Haare? Oder er hatte sie lieber, wenn sie lockig oder kurz wären und nicht so glatt und langweilig? Vielleicht war es meine blasse Haut, dass ich mich zu dezent schminkte? Aber nein. Soweit ich Misha kannte, kümmerte er sich nicht um oberflächliche Dinge. Dann muss es wohl an meinen grünen Augen liegen- er las irgendetwas darin, was ihm nicht gefiel. Oder mein Charakter, oder meine Wortwahl, meine Ausdrucksweise.
"Scheiße, Sarah.", zischte ich leise, "Reiß dich zusammen. Du bist 26 Jahre alt und stehst voll im Leben!"
Ich nickte mir selbst zu, band mir einen Zopf und ging nach unten.
-Du heulst wegen einem Kerl, während andere schon verheiratet sind und eine Familie gründen. Du redest mit dir selbst und wohnst noch zusammen mit deinem Bruder und Großeltern. 'Voll im Leben' ist was anderes, Sarah.-
Ich atme tief ein und aus. Von mir selbst genervt. Es schwang schon leicht in Selbsthass über, als Florian mir unten entgegen kam und ich all die negativen Gefühle auf ihn projizieren konnte. Also war er doch zu etwas gut.
"Guten Morgen.", lächelte ich provokant breit, "Ausgeschlafen?"
Er warf mir einen eisigen Blick zu.
"Fick dich."Ich konnte ein hämisches Glucksen nicht verhindern. Er hatte heute früh für meine Großeltern gesorgt und ich konnte endlich ein Mal ausschlafen. Ich machte mir Frühstück, hörte dabei Radio und zwang mich dazu, entspannt und glücklich zu sein. Es klappte sogar ein wenig. Aber immer wieder tauchten diese blauen Augen in meinen Gedanken auf.
Während meiner Arbeit, durchlief ich mindestens fünf Mal den Besuch in Washington. Wobei ich immer wieder meinte ein wichtiges Detail vergessen zu haben, weswegen der Film in meinem Kopf von vorn begann. Parallel las ich unseren Chat durch. Zu dem anfangs wohlig warmen Gefühl in meinem Bauch, und natürlich auch der Trauer die irgendwie von ihm zu mir übergeschwappt war, mischte sich nun ein eiskaltes Ziehen.
Den Chat las ich mir nicht mehr nur durch, um die schönen Gefühle wieder aufleben zu lassen, sondern um mich zu vergewissern, dass ich Misha tatsächlich getroffen hatte. Dass das alles wirklich passiert war. Auch Julia hatte lang nicht mehr geschrieben und trotz der Chats, begann ich ernsthaft an meinem Verstand zu zweifeln. Ich redete mit mir selbst, wartete auf eine Antwort von einem Schauspieler und bekam sogar Alpträume! Mann! Pubertierte ich?
Es reichte mir. Sicher- es war ein schönes, traumhaftes Wochenende, aber darauf durfte ich mir nichts einbilden. Mein Leben war hier und so auch meine Freunde und mein zukünftiger Ehemann. Washington war Washington. Ein Traum. Nichts weiter.
Es vergingen weitere zwei Wochen, ohne dass sich etwas in den Chats tat. Weder von Misha noch von Julia. Ehrlich gesagt war ich von ihr mehr enttäuscht. Ich dachte, sie wäre tatsächlich eine Freundin, auch wenn sie nur selten schrieb. Aber scheinbar hatte ich mich geirrt. Ich hatte kein Bock mehr. Beziehungen waren kompliziert und nutzlos - weshalb machte ich mir also Gedanken? Ich kramte mein altes Selbstbewusstsein heraus und ging aus der Tür.
Kühles November Wetter wehte mir unter den Mantel und eine Gänsehaut schob sich über meinen Rücken. Der warme Herbst war vorbei, aber trotz des grauen Wetters strahlten die fallenden Blätter bunter, als ich es jemals in Erinnerung hatte. Es war nicht der Herbst, der mich so glücklich machte. Nein. In ein paar Wochen begann Weihnachten. Weihnachten und Winter. Meine absolut liebste Zeit im Jahr!
Licht in der Dunkelheit, Wärme im kalten, Ruhe. Ja- Ruhe! Kein Florian, kein Vater. Nur meine Großeltern und ich. Die Tradition, dass die "Männer" meiner Familie die Feiertage mit saufen und vorzugsweise woanders verbrachten und die Frauen (also ich) für das Essen und den Haushalt und die Pflege verantwortlich waren, kam mir gerade Recht.
"Das ist absoluter Bullshit, Sarah.", meinte Laura und trank einen großen Schluck Wein. Wenn ich es mir Recht überlegte, war sie wohl genauso kindisch, wie ich. Beruhigend. Ich musste trotz des ernsten Themas lächeln.
"Das ist keine Art und Weise Weihnachten zu feiern. Deswegen weißt du nicht, was Liebe ist."
Ein Lachen kroch meine Kehle hinauf und ich konnte nicht anders, als es hinaus zu lassen. Ihre eisblauen Augen betrachteten mich vorwurfsvoll, aber ich ließ mich davon nicht abhalten. Erst, als die erste Träne über meine Wange lief, konnte ich mich zusammenreißen.
"Schön, dass du es lustig findest.", brummte sie und nahm verbissen einen Schluck Kaffee.
"Laura, komm schon.", brachte ich hervor. Noch außer Atem vom Lachen.
"'Laura, komm schon.'", äffte sie mich nach und ich zog nur eine Augenbraue hoch.
"Du bist emotional verkrüppelt, Laura.", fuhr sie fort und lehnte sich dabei zu mir vor, "Welcher normale Mensch liebt es, allein zu Weihnachten zu sein?"
"Ich bin nicht allein.", gab ich schulterzuckend zurück.
"Sicher- deine Großeltern. Stimmt." Ihr Sarkasmus war unüberhörbar. Ich schmunzelte sie an und sie verdrehte die Augen.
"Wirklich. Wenn du mich nur lassen würdest, hätte ich dich da schon längst rausgeholt."
"Und dann?", fragte ich sie auffordernd, aber sie runzelte nur die Stirn. Nun nahm ich einen Schluck vom Kaffee. Verdammt schmeckte er herrlich.
"Meine Familie braucht mich."
Laura machte schon den Mund auf, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen.
"Ob ich es nun will oder nicht- sie sind meine Familie, Laura. Da kann ich nichts gegen tun! Und selbst wenn..." Ich lehnte mich mit einem Seufzen zurück und genoss die Wärme, die dieses Cafe in mir auslöste. "Selbst wenn sie nicht meine Familie wären- jeder Mensch hat es verdient, gerettet zu werden."
Wieder verdrehte Laura die Augen und schlug genervt ihre Beine übereinander. Ja, das Thema "Die Welt retten" hatten wir schon oft. Ich warf ihr noch ein Schmunzeln zu und sah dann aus dem Fenster. Die Tasse in meinen Händen wärmte meine kühle Haut.
In unserem Dorf war nie viel los und auch heute sah ich auf eine leere Straße, die bedeckt mit braunen und orangen Blättern war. Wind fegte sie ab und an hoch und wehte sie durch die Gegend. Ein schwarzes Kätzchen spielte mit ihnen. Ich atmete tief ein und stellte mir vor, wie die Blätter nach und nach verschwanden und von Schnee abgelöst wurden. Eisblumen an den Fenstern. Kinder in dicken Mützen und Schals. Ein Mann im schwarzen Mantel und hochgeschlagenem Kragen lief an dem Fenster vorbei. Das Gesicht tief in den Schal eingegraben. Er war schon fast vorüber, als er aufsah. Mishas blaue Augen blickten mir entgegen.
Ich atmete vor Schreck tief ein und verschüttete beinahe etwas Kaffee über meinem Schoß. Mein Herz raste. Augenblicklich war jede Wärme aus meinem Körper verschwunden. Hastig konzentrierte ich mich auf Laura, die von der Grundschule erzählte. Versuchte, dieses Bild in meinem Kopf beiseite zu schieben.
-Nur ein Traum, Sarah. Nichts weiter. Es war alles nur ein Traum.-
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Little Angel
FanficPAUSIERT Eingesperrt. Sarah war eingesperrt. Familie, Freunde, Arbeit- das alles hatte eine andere Bedeutung für sie. Mit 26 Jahren begab sie sich zum ersten Mal in die Weite der Welt, nur um feststellen zu müssen, dass die Größe Washingstons nichts...