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Mein Vater war verschwunden und hinterließ Zerbrochenes. 
"Wir sind in der selben Lage.", begann ich, während wir Schritt für Schritt die Treppe hinab liefen. Florian konnte nur schwer seine Schmerzen bei jeder Bewegung seines Körper verbergen. Wenn ich ihn ansah, baute sich Hass und Panik in mir auf. Aber ich musste dagegen ankämpfen. Seine Stille nahm ich als Zustimmung. 
"Du musstest Vater von Misha erzählen, das verstehe ich. Vielleicht hättest du es sonst gar nicht überlebt."
"Sarah." Er blieb stehen, da waren wir etwa in der Mitte der Treppe angekommen. Ich wollte ihm nicht in das geschundene Gesicht schauen. Die Schuld trieb mir die Galle in den Mund. 
"Ich verstehe- du willst dich bedanken und gleichzeitig verlangst du von mir, mich auf deine Seite zu schlagen."
Mein Herz schlug jetzt etwas schneller. Ich hatte nicht erwartet, dass er es so schnell begreifen würde. Ich hatte noch gar nichts ausgesprochen. Meine Hand legte sich wie von selbst an seinen Oberarm. 
"Du stehst schon mit einem Bein auf meiner Seite, Flo!", zischte ich hastig, "Und wir sind nicht allein! Misha steckt jetzt mit drin und ich habe Freunde!"
Flo lachte auf und schlug meine Hand weg. 
"Die hat Vater auch."
Ich schluckte. Sofort schossen mir Bilder durch den Kopf. Von einem 20jährigen Florian, der halb tot in einem Krankenhausbett lag. Schreie- ich hörte die Schreie, die nachts durch das Haus hallten. 
"Es gibt Gründe, weshalb ich mich krumm mache, Sarah.", murmelte er, während er die Treppe weiter hinunter humpelte. 
"Gründe, die- wenn du sie wüsstest- auch dein Leben in Gefahr bringen."
Das traf mich unerwartet hat und raubte mir für einen Moment sogar den Atem. Ich wusste zwar nicht, was das für Gründe sein sollte, aber es mussten heftige sein. Bisher hatte ich geglaubt, dass wir allein wegen Vater schon in Lebensgefahr waren, aber offenbar waren all diese Umstände noch klein im Vergleich dazu, was Florian erlebte. Was er wusste. 
"Erzähl es mir.", sagte ich hastig und griff wieder nach seinem Arm. Seine Muskeln versteinerten und er sah mich nicht an, während er zischte: "Du hast keine Ahnung, Sarah."
Er riss sich von mir los und betrat den Flur.
"Und das ist auch gut so."
Er war im Bergiff in sein Zimmer zu verschwinden und dann hatte ich gar keine Chance mehr. 
"Warte!", rief ich. Er blieb stehen, aber sah mich nicht an. 
"Du weißt, dass Misha mit drin steckt. Er wird das hier nicht so leicht verlassen können." Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, "Und wenn du sagst, dass ich nichts weiß, dann weißt du ganz sicher, dass auch Misha jetzt in Lebensgefahr ist."
Ich machte eine Pause, aber er reagierte nicht. Stand nur da und starrte auf seine Tür. Ich lief die Treppenstufen hinab und stellte mich vor ihn. Wollte Blickkontakt aufbauen, aber es schien, als blicke er durch mich hindurch. 
"Du weißt genau so gut, wie ich, dass wir keine andere Wahl haben, als in den Krieg zu ziehen."
Seine Mundwinkel zuckten, aber ich wusste nicht, ob sie nach oben oder unten zuckten. 
"Das hier kann blutig oder relativ ruhig enden, Flo.", raunte ich. Meine Hand legte sich auf seine Brust. Er zuckte zusammen, aber wich nicht zurück. Stattdessen schloss er die Augen und mir wurde schwindelig. So sehr, dass ich fast umfiel und Feuer schien alles in mir zu verwüsten. Gerade so konnte ich einen Aufschrei verhindern. Es war so schnell vergangen, wie es gekommen war und ich sackte erschöpft gegen seine Zimmertür. Als er die Augen aufschlug, blickte er mich direkt an. Verwirrt, aber vor allem ängstlich. Ich schluckte und wich seinem Blick aus. Für einen Moment war es unglaublich still und ich schüttelte meine Hand aus. Versuchte den Rest des Feuers von mir zu abzustreifen. Aber das Kribbeln in meinen Fingern blieb. Die Luft ließ mir keinen Raum zum atmen. 
"Treff dich mit ihm, Sarah. Du hast meine und Vaters Erlaubnis. Treff dich hier oder dort mit ihm, es ist mir egal. Aber sei erreichbar."
Ich schluckte und biss die Zähne zusammen. Meine Augen brannten, als er mich zur Seite schob und in sein Zimmer lief. Ich sah ihm flehend entgegen, aber er wandte sich ab und schloss die Tür. Doch bevor sie ganz geschlossen war, hörte ich ein leises: "Es endet immer blutig."
Eine Gänsehaut walzte über meinen Rücken und mein Herz raste. Als ich mich umwandte und nach meiner Reisetasche neben der Haustür griff, wusste ich nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Ein Rausch durchfuhr mich und machte mich taub. Ließ mich nur noch funktionieren. Stand Florian nun auf meine- auf unserer Seite? Keine Ahnung. Aber er ließ mich offenbar machen. Gab mir die Möglichkeit, Misha zu sehen, selbst wenn ich dafür fliegen musste. 
Ich verabschiedete mich von meinen Großeltern und trat aus dem Haus. Ein flaues Gefühl im Magen. Es war nur eine Ahnung, ein Gefühl! Und ich konnte nicht anders, als noch ein Mal zurückzublicken. Aus Florians Zimmer schallte laute Rapmusik. 
Das hier ist größer. Viel größer, als ich bisher angenommen hatte. Und nur Florian wusste, wie groß. 

Little AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt