39.

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Nach einem langen, langen Abend mit Bowling, Cocktails und verdammt viel Spaß bin ich wieder mit zu Liam gefahren, denn in weiser Voraussicht mit Blick auf unseren Alkoholkonsum habe ich den Mitsubishi bei ihm stehen gelassen und uns ein Taxi gegönnt. Zwar gefällt es mir nicht, den Wagen außerhalb meiner Garage stehen gelassen zu haben, aber es wäre auch albern gewesen, erst zu mir zu fahren, das Auto wegzubringen und dann mit Jenny und Kaiden gemeinsam mit dem Taxi zu fahren- wo es doch absehbar war, dass ich die Nacht lieber wieder in Liams Armen verbringen würde.

Seufzend parke ich den Wagen am nächsten Tag wieder in meiner Garage, nachdem ich einen Umweg über die Waschanlage im Nachbarstädtchen gemacht habe. Die Jungs dort kennen mich- und es gibt Kaffee umsonst.
Eine Weile habe ich mich schon wieder mit meinen Aufträgen rumgeschlagen, als Kaiden in mein Zimmer tritt. 
"Na Schwesterchen."
"Erschreck mich doch nicht so!" lache ich und schlage ihm leicht gegen die Schulter.
"Hast du kurz Zeit?"
"Für dich immer." Nickend bedeutet er mir, ihm ihn sein Zimmer zu folgen. 
"Ich hab' wieder einen Song fertig. Du sollst die erste sein, die ihn hört. Wie immer."
Während ich den Song höre, reift in mir der Entschluss, dass ich Kaiden endlich zu einem Auftritt verhelfen muss. Denn das, was er da macht ist verdammt gut.

Am späten Mittag melden sich Bea und Adrian bei mir und schon bin ich für den nächsten Tag mit Bea und vermutlich auch Jenny  zum shoppen verabredet. Ich will gerade auflegen, als Adrian noch mit mir sprechen möchte.
"Hast du noch Lust auf ein kleines Rennen heute Abend? Wir können wieder die Rennstrecke am Waldrand nutzen. Alles wie immer, keine Begrenzung, 300 Startgeld."
"Ich bin dabei klar. Wie immer."

"Kaiden?"
"Hm?" brummt es müde von der Couch in meine Richtung.
"Ich bin dann wieder weg. Aber ich glaube, ich komme dann heute Abend wieder nach Hause"
"Wo gehst du hin?" fragt er plötzlich hellwach. Seit wann ist er so aufmerksam?
"Ein kleines Rennen. Nichts großartiges."
"Okay... Pass auf, dass es dir nicht zu viel wird, Kalista."
"Ja ja. Bis später."
Dafür, dass Adrian mir das heute Abend als ein kleines Rennen angepriesen hat, ist ziemlich viel los. Gefühlt sind doppelt so viele Leute da wie sonst. Und ausgerechnet heute habe ich niemanden mitgenommen.
"Kalista! Schön, dass du da bist!"
"Andrew?!?" lachend falle ich einem alten Bekannten in die Arme. "Was machst du denn hier?"
"Naja, nachdem ich letzte Woche nicht mit zur Ausfahrt konnte wegen meiner Arbeit, habe ich Adrian gebeten, mir Bescheid zu sagen, wenn bei euch wieder was steigt. Ich wollte dich wirklich gern mal wieder sehen, du hast dich ziemlich rar gemacht in den letzten Monaten."
"Du weißt doch genau warum.  Es ist halt alles blöd, genauso wie vorher."
Weiter schwatzend stoßen wir mit unseren kalten Getränken an und schlendern an den parkenden Wagen vorbei.
"Du fährst wieder den Mitsubishi? Ich dachte du hättest Ethans Mazda bekommen...?" fragt er leise, sodass es niemand mitbekommen kann.
Betreten nicke ich. "Er steht in der Garage... Ich ... verdammt, ich kann ihn einfach nicht hier draußen zu den Rennen fahren."
"Du kannst. Du traust dich nur nicht. Kalista, dein Leben geht doch weiter. Verdammt, du kannst doch nicht alles nach ihm ausrichten! Es ist dein verdammtes Leben. Und nur weil du irgendwelche dämliche Geheimniskrämerei betreiben musst, ist es tausendmal komplizierter, als es sein müsste. Was ist denn dabei, wenn alle wissen, wer du bist? Fährst du deswegen schlechter? Die Hälfte der Leute drüben im alten Bezirk wissen, wer du bist. Und aus Loyalität dir und Ethan gegenüber sagt niemand was. Aber niemand versteht, warum du Spielchen spielst. SO machst du mehr kaputt als du dir vorstellen kannst." knurrt er mich an und lässt mich vollkommen verdattert am Parkplatzrand stehen. Nachdenklich starre ich auf die halbleere Bierflasche in meiner Hand.
Letztendlich hat Andrew vollkommen Recht. Was genau hält mich davon ab? Shane hält sich in letzter Zeit bevorzugt an Stacy und ich habe doch meinen Liam. Aber es fühlt sich an, als würde ich ein Kapitel in meinem Leben beenden- Kapitel Ethan. Ich weiß nicht,  ob ich dafür wirklich bereit bin. Jahrelang war er mein Dreh- und Angelpunkt, der plötzlich fehlte.
"Kali? Alles okay?" Ich schrecke auf, als Bea mich anspricht und nicke geistesabwesend.
"Adrian sucht dich schon die ganze Zeit. Aber- hey, du siehst nicht gut aus. Willst du wirklich starten?" fragt sie mich besorgt.
"Passt schon, klar. Wo ist er?" Zügig trinke ich den letzten Schluck Bier aus und folge Bea zu ihrem Freund, um meine Startgebühr zu zahlen und mich startklar zu machen.

Ein bitterer Geschmack in meinem Mund breitet sich aus, als ich an die Startlinie rolle und erneut Stacy in Shanes Wagen lehnt. 
Andrew steht neben Adrian und nickt mir aufmunternd zu und irgendwie schleicht sich ein Lächeln in mein Gesicht. Vielleicht ist doch nicht alles so schlecht, wie ich es mir ausmale. Es gibt Menschen, die zu mir halten. Zu mir, Kalista. Nicht der Drachengeborenen. Vielleicht ist es wirklich mal an der Zeit. Nicht heute. Aber bald.
Noch nie bin ich ein Rennen so entspannt angefahren. Als hätten Andrews harsche Worte vorhin einen Schalter in mir umgelegt.
Fünf Wagen vor mir? Mir doch egal. 
Vier Wagen vor mir? Wann habe ich denn jemanden überholt?
Zum ersten Mal seit langer Zeit fahre ich nicht unter dem Druck, gewinnen zu müssen. Es spielt einfach keine Rolle gerade. Ich erinnere mich einfach wieder daran, warum ich damals mit dem Rennen fahren nicht aufhören konnte. Ich liebe es einfach. 
Der röhrende Motor, der Geruch der Abgase. Die Umgebung, die an mir vorbeifliegt- ja, es ist wie fliegen. Nur ohne diese schreckliche Höhe. 
Drei Wagen vor mir.
Zwei Wagen vor mir.
Ich drücke das Gaspedal weiter nach unten. Spüre, wie parallel zum  Tacho mein Puls in die Höhe steigt.
Ein Wagen vor mir. Shane.
Kurz frage ich mich, ob die anderen Fahrer jemals eine Rolle gespielt haben.
Beinahe zeitgleich überfahren wir die Ziellinie. Erst als Adrian auf mich zukommt, wird mir bewusst, dass ich ihn wieder geschlagen habe. Eigentlich kann es nicht sein, denn ich habe kurz vor der Ziellinie kein Gas mehr gegeben.

"Kalista?"
"Andrew?"
"Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angegangen bin... Das war nicht..."
"Nein. Es war richtig. Du hast recht und wahrscheinlich habe ich genau das gebraucht. Danke Andrew. Es tut gut, zu wissen, dass noch Leute zu mir halten. Ehrlich gesagt... habe ich nicht mehr damit gerechnet."
"Ich weiß. Du hast dich damals ziemlich abgekapselt. Hast niemanden mehr an dich rangelassen, obwohl wirklich viele immer für dich da waren. Auch wenn du es nicht immer gemerkt hast."
"Danke. Ich werde euch bald mal wieder besuchen kommen. Versprochen."
"Mach das. Nicht nur ich würde mich darüber freuen."
Wenig später verabschiede ich mich noch von den restlichen Leuten die ich kenne und verschwinde unauffällig. Wie ich es geschafft habe, Shane und Stacy heute vollkommen aus dem Weg zu gehen, weiß ich wirklich nicht.

Als ich den Warnton der Reifendrucksensoren vernehme ist es schon fast zu spät. Blitzschnell versuche ich meine Geschwindigkeit zu reduzieren, doch die Bremsen reagieren nicht.
Was zur Hölle?!? Gestern erst habe ich den Wagen persönlich durchgecheckt.
Instinktiv ziehe ich wohldosiert die Handbremse immer wieder etwas an, trotzdem schlingert der Wagen gefährlich über die leere Straße. Dabei, die Kontrolle zu verlieren, versuche ich nur noch, nicht gegen einen Baum zu fahren und langsamer zu werden. Verdammte Landstraßen mit ihren Schlaglöchern, die machen es mir nicht leichter, den Wagen irgendwie zu halbwegs auf Kurs zu halten.
Meine Hände sind schweißnass und das Blut rauscht laut in meinen Ohren.
Blind hämmere ich auf die Wahlwiederholungstaste an der Freisprecheinrichtung. Irgendwem muss ich sagen, wo ich bin, blitzt es noch durch meine Gedanken. 
Als jemand den Hörer abnimmt brülle ich ihm oder ihr die Nummer der Landstraße entgegen und spüre den Ruck, als mein geliebtes Auto gegen einen Baum knallt. Das Geräusch ist ohrenbetäubend für mich und kurzzeitig bleibt mein Herz sicherlich stehen. Der Gurt schneidet tief in meine Schulter ein, als ich nach vorn geschleudert werde, doch er hält mich fest. Es riecht nach Rauch und verschmortem Gummi - dann ist alles schwarz.

HeartracerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt