Kapitel 16

1.3K 62 4
                                    

Neverland, vor Emmas Geburt/ dem Fluch:
(Juna: 15 Jahre)

Es ist eine Nacht vergangen, seitdem ich Tinkerbell das erste Mal begegnet bin. Wieder erkunde ich die Insel, doch dieses Mal gehe ich in die entgegengesetzte Richtung, denn ich will die Frau nicht noch einmal treffen.

Dieser Teil Neverlands unterscheidet sich insofern von dem, den ich gestern durchstreift habe, dass er steiler aufsteigt. Auch der Dschungel ist hier nicht ganz so dicht wie in dem anderen Teil. In der Ferne höre ich Wasser rauschen.
Das Meer?
Nein, dafür bin ich zu weit vom Strand entfernt.

Neugierig gehe ich dem Geräusch nach und gelange auf eine große Wiese. Dank dem Vollmond ist die Tatsache, dass es Nacht ist, kein Hindernis. Das Gras reicht mir hier bis zur Hüfte und so kann ich nicht besonders weit blicken. Das Geräusch von fließendem Wasser ist hier allerdings deutlich zu hören.

Obwohl ich mit vorsichtigen Schritten gehe, wäre ich fast vorne über gefallen als ich plötzlich vor einem Fluss stehe. Dieser teilt die Wiese entzwei.
Ich folge seinem Verlauf, der mich wieder in den Dschungel hinein führt. Immer wieder muss ich mich an Bäumen vorbei drücken, die auch direkt am Rand des Flusses wachsen. Irgendwann mündet dieser in einen kleinen Wasserfall, der höchstens vier Meter hoch ist. Die Felskante, an der ich nun hinunterschaue ist mit Sträuchern und Traumschatten bewachsen. Kleine Wassertropfen fliegen von dem Wasserfall in mein Gesicht. Direkt neben mir steht ein Baum, an dem ich mich vorsichtshalber festhalte.
Der Wasserfall bildet unten einen kleinen Teich, um den sich eine Lichtung mit braunem Fels als Untergrund befindet, die wiederum von dem Dschungel umrahmt wird. Und auf dieser Lichtung sitzt Pan mit Tinkerbell.

Ich kann die Beiden gut erkennen, denn sie werden von dem Mond regelrecht angestrahlt. Sie halten ihre Füße in das Wasser und sich an den Händen. Das Lachen der Frau hallt an der Felswand wieder und ruft in mir eine tiefe Abscheu ihr gegenüber hervor.
Ich wusste doch, dass zwischen ihr und Pan etwas ist!
Dieser Ort könnte wunderschön sein, wenn diese zwei sich nicht gemeinsam hier aufhalten würden.

Als Pan Tinkerbell auch noch küsst treten mir Tränen in die Augen und gleichzeitig brennt meine Brust als würde sie in Flammen stehen.
Meine Hände wollen sich zu Fäusten ballen, doch stoßen wegen des Baumes auf Widerstand. Die verkrampften Finger graben sich in die harte Rinde, Holz drückt unter meine Fingernägel, doch der Schmerz ist mir gerade äußerst willkommen. Ich habe das dringende Bedürfnis meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Mein Blick verbeißt sich in Tinkerbells Hals. Ich will ihr die Luft zum Atmen nehmen, genauso wie meine Wut es mit mir macht.
Die Frau unterbricht augenblicklich ihren Kuss mit Pan und legt sich ihre Hände an die Kehle. Sie reißt den Mund auf und ringt panisch nach Luft.
Meine Lippen verziehen sich zu einem fratzenähnlichen Lächeln als sie röchelnd ins Wasser fällt.
Im nächsten Moment ist es jedoch als würde das Geräusch des aufspritzenden Wassers einen Schleier von meinen Augen reißen, denn auf einmal begreife ich was ich da gerade getan habe.

Pans Blick scannt wütend den umliegenden Dschungel ab. Er sucht nach dem Mörder. Eilig verstecke ich mich hinter dem Baum und lehne mich mit dem Rücken an seinen Stamm. Mein Atem geht flach und schnell. Ich habe tatsächlich jemanden umgebracht. Klar und deutlich sind die Worte in meinem Kopf, doch ich begreife sie dennoch nicht so recht.

„Sehr interessant", kommentiert Pan, der wie aus dem Nichts vor mir steht. Nun laufen Tränen über mein Gesicht. „Bitte glaub mir... Ich wollte das nicht!", stammele ich überfordert.
„Oh, ich glaube schon, dass du es wolltest", grinst Pan. Für die Frage, warum er in einer solchen Situation lächeln kann, ist kein Platz in meinem Kopf.
„Nein! Es war ein Unfall", meine Tränen der Verzweiflung lassen sich nicht stoppen.
„Nein, es war ein Test", Pans Grinsen wird noch breiter. „Der Schatten hat mir berichtet was du gestern vorhattest", passend dazu schwebt die dunkle Gestalt nun neben Peter, „Und so wollte ich dich testen und habe den Schatten ein Trugbild von Tinkerbell darstellen lassen. Und ich muss sagen, ich bin überrascht."
Seine Worte hallen in meinen Gedanken wieder.

Es war ein Test, ein Spiel.

Ein verdammter Test, ob ich sie umbringen würde!

„Pan, ich bin keine böse Mörderin. Ich wollte sie gestern nur erschrecken", sage ich leise.
„Ich weiß, dass du nicht böse bist. Aber eifersüchtig und das ist höchst interessant", Pan lacht, „Komm mit zurück ins Lager." Er reicht mir die Hand und ich ergreife sie nach kurzem Zögern, woraufhin er mir auf die Beine hilft.

Neverland, nachdem der Fluch gebrochen wurde:

„Was machst du denn hier?", frage ich mit trockener Kehle.
„Ich wollte dir das hier wiedergeben als ich hörte, dass du in Neverland bist", Tinkerbell streckt ihre Hand aus, in ihr liegt das Messer, mit dem ich sie vor langer Zeit erschrecken wollte. Wortlos nehme ich es. Schweigen liegt bleiern zwischen uns.

„Ich wohne jetzt hier", sage ich irgendwann.
„Dann auf eine gute Nachbarschaft, Juna", Tinkerbells Worte sind vorsichtig gewählt. Sie will keinen Streit. Wahrscheinlich hat sie Peters und meine verschränkten Hände bemerkt.
„Sie heißt nun Luna", mischt Peter sich ein. Zur Bestätigung nicke ich. „Okay, Luna also", Tink nickt gedankenverloren. Ich nicke ebenfalls, aber wie zur Verabschiedung und will mich an ihr vorbeischieben, als sie mir eine Frage stellt: „Wer ist der Mann, mit dem du gestern geflüchtet bist?"
„Er ist mein Exmann", sage ich kurz angebunden, „Und nun ist er tot."
Die Worte berühren mich gerade nicht, zu groß ist die Abneigung gegen Tinkerbell.
„Wir müssen jetzt auch los", beendet Pan das Gespräch und geht voran. Die junge Frau verschwindet wieder im Dschungel. Das war eine äußerst seltsame Begegnung.

Im Lager angekommen haben ein paar verlorene Jungen bereits das Essen bereitet. Eine einfache Suppe. Peter und ich sitzen abseits von den Kindern, die sich lachend auf die Suppe stürzen. Sie ist zwar nichts besonderes, aber für mich bedeutet sie Heimat.
Die Stimmung zwischen Peter und mir ist nach dem Treffen mit Tink gedrückt. In meinem Kopf schweben Fragen, die noch nicht geklärt wurden. Jetzt möchte ich sie endlich beantwortet haben.

„War jemals etwas zwischen Tinkerbell und dir?", frage ich geradeheraus. Peter guckt mir direkt in die Augen als er antwortet.
„Nein, sie ist nicht mein Typ. Und wenn etwas zwischen uns gewesen wäre, dann wüsstest du davon."
Ich nicke und glaube ihm auch, doch es ist noch nicht alles geklärt. „Warum ist sie eigentlich hier in Neverland? Sie ist schließlich kein verlorenes Mädchen."
Peter lacht als er antwortet, „Weißt du Tinkerbell ist eigentlich eine Fee. Doch man hat nicht mehr an sie geglaubt. Sie kam hierher, weil sie dachte, dass ihr hier geholfen werden würde, schließlich ist Neverland schon fast ein Symbol für Glauben. Ich habe ihr ja auch geholfen, indem ich sie hier leben lassen habe. Den Rest muss sie selbst schaffen." Er zuckt die Schultern.

Eine Fee also. Der Inbegriff des Guten. Gerade bin ich heilfroh, dass Peter böse ist.
„Ich glaube aber nicht, dass sie keinen Preis dafür zahlen musste", kontere ich.
„Sie hat mir die Antwort auf eine meiner größten Fragen gegeben", antwortet Pan. „Ich erzähle dir wann anders davon", stoppt er mich, als ich ansetze genauere Informationen zu verlangen.
„Na schön", sage ich grummelig. Peter lacht.

Wir haben fertig gegessen und bringen unsere Teller zu einem der Fässer. Ein paar Jungs werden sich darum kümmern. Dann zieht der Herr Neverlands mich zur Leiter.
„Ich habe lange genug gewartet", grinst er. Ebenfalls grinsend folge ich ihm die Leiter hinauf in den Blätter-Kokon. Eine kribbelige Vorfreude breitet sich in meinem Bauchraum aus.

Es ist bereits dunkel als wir die Leiter wieder hinuntersteigen, doch ich bin noch lange nicht müde.
Lächelnd hole ich einen Apfel aus einem der Fässer und werfe ihn Felix zu.
„Und willst du herausfinden, ob ich noch schießen kann?", rufe ich ihm zu. Er saß eben noch gemütlich mit den anderen Jungen am Feuer, doch nun liegt die Aufmerksamkeit bei mir. „Aber immer doch", antwortet er und bringt etwas Abstand zwischen sich und das Feuer. Dann platziert er den Apfel auf seinem Kopf und stützt sich mit den Händen auf seiner Keule auf. Einer der Jungen bringt mir die Armbrust und einen Pfeil.
„Warte", Pan nimmt mir den Pfeil weg und taucht ihn in eine Flüssigkeit. „Was ist das?", frage ich. „Traumschatten, für die Spannung", er grinst, dann gibt er mir den Pfeil wieder. An ihm haftet soviel Gift, dass es schon heruntertropft. Doch ich lasse mich davon nicht beirren und lege die Armbrust an.

Meine Hände zittern kein bisschen und so kann ich gut auf den Apfel zielen.
Ein Schuss und der Apfel teilt sich entzwei.
Die Jungen jubeln.
Peter nimmt meinen Arm und reißt ihn in die Höhe, dabei ruft er: „Ich präsentiere euch die Herrin Neverlands!"
Mein Grinsen wird breiter und obwohl ich das Gefühl schon immer hatte, spüre ich es jetzt noch deutlicher:
Hier ist mein Zuhause.

Peter Pan loves meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt