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HARRY

Lafayette. Meine Heimatstadt, in der ich geboren und aufgewachsen war. Die ich vor zwei Jahren freiwillig verlassen hatte und in die ich heute unfreiwillig zurückkehrte. 'Twist Bar & Grill', das Lokal meiner Mum, in dem auch meine Schwester Mia arbeitete, brauchte jemanden, da meine Mum sich gestern das Bein gebrochen hatte und jetzt für zwei bis drei Monate ausfiel.

Als ich nach drei Stunden Autofahrt in Lafayette ankam, stellte ich fest, dass es noch genauso aussah wie vor zwei Jahren. Natürlich, denn niemand kümmerte sich um dieses abgefuckte Kuhkaff. Die Häuser waren baufällig, aber die Leute, die darin wohnten, interessierten sich einen Scheiß dafür, weil sie nur damit beschäftigt waren, im 'Twist' zu sitzen und zu saufen. Als ich mich vor drei Jahren als schwul geoutet hatte, hatte ich die Engstirnigkeit dieser Leute ganz deutlich zu spüren bekommen, bis es mir endgültig gereicht hatte und ich weggezogen war. Und jetzt war ich zum ersten Mal wieder hier.

Ich fuhr zum Krankenhaus, um meine Mum zu besuchen. Sie lag in einem Einzelzimmer, und als ich es betrat und sie mich sah, strahlte sie mich an. "Harry! Hallo, mein Schatz!", begrüßte sie mich freudig und ich beugte mich über sie und drückte ihr einen Kuss auf den Mundwinkel. "Hey Mum". Mit ihrer Gutmütigkeit und Herzlichkeit passte sie gar nicht hierher, obwohl sie auch verdammt tough sein konnte, wenn sie es für nötig hielt. "Danke, dass du gekommen bist, Harry". "Klar, wenn du dir unbedingt ein Bein brechen musst...", sagte ich und beäugte Mums Liegegips. "Ja, das war ziemlich ungeschickt von mir". "Die Hauptsache ist jetzt, dass du wieder auf die Beine kommst. Auf BEIDE Beine", sagte ich und sie lachte. "Okay". "Wo ist Mia?". "Im Twist, arbeiten". "Dann werde ich da jetzt hinfahren und ihr helfen, denn dafür bin ich ja gekommen". "Danke". "Kein Problem, ich besuche dich morgen wieder". "Alles klar".

Eine viertel Stunde später betrat ich das 'Twist' und sah ein Mädchen hinter dem Tresen stehen, das ich nicht kannte, also ging ich hin. "Hey". "Hey, was darf es sein?". "Ähm, ich bin zum Arbeiten hier", teilte ich der mir Fremden mit und sie blickte mich überrascht an. "Oh, du bist Harry?". "Ja, und wer bist DU?". "Abbie". "Und du arbeitest hier?". "Jepp. Mia, dein Bruder ist hier!", rief Abbie - und dann kam Mia mit einem völlig neutralen Gesichtsausdruck aus der Küche. "Hey", begrüßte sie mich emotionslos. "Schwesterherz!", rief ich freudig und umarmte sie ganz fest. Ich hatte sie seit zwei Jahren nicht gesehen. Mum hatte mich regelmäßig besucht, das letzte Mal war erst vor einem Monat gewesen, aber Mia nicht. Sie war mir böse, weil ich weggezogen war. Als ich noch hier gewohnt hatte, hatten sie und ich ein verdammt gutes Verhältnis zueinander gehabt, und ich hatte in den letzten zwei Jahren versucht, mich ihr wieder anzunähern, wenn auch nur mit Anrufen und Textnachrichten, aber sie wollte mir einfach nicht verzeihen, weil sie eben stur war. Mia erwiderte meine Umarmung nicht, aber das war mir jetzt scheißegal, denn ich freute mich unsagbar darüber, sie wiederzusehen.

"Du kellnerst heute", teilte Mia mir kurz und knapp mit, drehte sich um und ging wieder zurück in die Küche. Also kellnerte ich.

Der Abend verlief problemlos. Ich nahm Essens - und Getränkebestellungen auf, gab diese entweder an Abbie an der Bar weiter, oder an Mia in der Küche, und servierte es dann den Leuten. Mia redete nur das Nötigste mit mir, stellte mir das fertige Essen immer einfach in die Durchreiche und ignorierte mich ansonsten völlig.

Als ich einmal eine Verschnaufpause hatte, weil niemand etwas von mir wollte, stellte ich mich neben Abbie und trank eine Coke.

"Wie lange arbeitest du schon hier?", fragte ich Abbie höflich, die gerade dabei war, mit einem feuchten Geschirrtuch die Theke abzuwischen. "Seit einem Jahr". "Wie kommt es, dass ich dich hier noch nie gesehen habe?". "Ich bin nicht von hier, sondern aus Jennings". "Okay, ich verstehe". Jennings war das Nachbarskaff, eine halbe Stunde Autofahrt von hier entfernt und fast genauso abgefuckt wie Lafayette. Aber nur fast.

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