Um Punkt zwölf Uhr betrat ich den gläsernen Aufzug des berühmten Hochhauses »The Shard« in der London Bridge Street 36. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit sah ich, wie die Häuser unter mir immer kleiner wurden, je höher ich gelangte. Schließlich stoppte der Aufzug in der 70. Etage des gläsernen Turms. Ein letztes Mal warf ich einen Blick auf die Visitenkarte, die gleichzeitig auch meine Eintrittskarte zu den Privatenaufzügen war, und stieg aus.
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, als ich einen flüchtigen Blick hinunter auf die Straße warf. »Wirklich beeindruckend, oder?«, Raymonds Stimme ließ mich herum wirbeln »Ja... ja... das ist es wirklich, wenn man keine Höhenangst hat«, gestand ich kleinlaut. Raymond begann zu lachen »Das stimmt. Schon während der Shard damals gebaut wurde, wusste ich, dass ich einmal hier leben wollte«.
Ich ging an ihm vorbei, durch die Eingangstür des Apartments hindurch in den Licht durchfluteten Vorraum, ehe ich sagte »Es muss schön sein, wenn man seine Träume von einer eigenen Wohnung erfüllt. Ich würde mich über eine Einzimmerwohnung am Rande Londons schon freuen, die nicht über tausend Pfund im Monat kostet«. Er schien auch das amüsant zu finden und führte mich in das Wohnzimmer, von dessen Fenstern aus ich die Themse sehen konnte. »Das Essen ist noch nicht fertig«, teilte mir Raymond mit und reichte mir ein Glas Roséwein. Er selbst schenkte sich nur ein Glas Wasser ein und hielt somit das Versprechen, dass er mir gestern Nacht gegeben hatte.
Er bemerkte meinen Blick »Es ist nur Wasser«, erklärte er »Kein Vodka«. Ich nahm einen Schluck des prickelnden Weines ehe ich ihn beruhigte »Ich vertraue dir, Raymond«, mit diesen Worten wandte ich mich wieder dem Ausblick zu »Außerdem wollte ich dir nur sagen, dass dieser Cocktail wirklich gut schmeckt und es Schade ist, dass du ihn nicht trinken kannst«.
Plötzlich fühlte ich seine Hand auf meinen Rücken »Das ist kein Cocktail, Valerie«, sein Atem strich über mein linkes Ohr »Das ist Wein. Er wurde in der Provence hergestellt«. Peinlich berührt stellte ich das Glas beiseite »Ich war noch nie dort, darum kenne ich mich damit auch nicht aus. Für mich ist Wein entweder weiß oder rot«. Raymond ließ von mir ab und warf einen Blick auf seine schwarze Rolex. »Ich denke, das Essen ist jetzt serviert. Dann habe ich genug Zeit dir von Südfrankreich und seinen malerischen Weingütern zu erzählen«.
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Während Raymonds Koch sein Können zeigte, hielt er selbst sein Versprechen und erzählte mir von all den kleinen Orten und Küstenstädten an der Côte d'Azur. Er tat dies auf eine so poetische Art, dass ich den Geruch von Lavendel und Salzwasser selbst riechen konnte. Ich hörte wie die Wellen des Mittelmeeres auf den weißen Kiesstränden brachen und das Zirpen der Zikaden am Abend in den Olivenhainen. Ich war so gebannt von seinen Erzählungen, dass sich der Nachmittag bis spät in den Abend hineinzog.
Inzwischen waren er und ich zurück in das Wohnzimmer gekehrt. Ich saß neben ihm, auf einer der schwarzen Sofas und beobachtete wie die Flammen in dem gläsernen Kamin den dunklen Raum erhellten. Unter uns lag London in einem Ozean aus Lichtern. Raymond schloss mit den Worten »Eines Tages solltest du all das sehen« ab. Ich fühlte wie sich das Fernweh in mir ausbreitete und griff nach der Flasche Roséwein vor mir, auf dessen Etikett Dom Pérignon Rosé stand, um nachzuschenken.
Raymond war überrascht, als ich ihm das Glas reichte »Ich vertraue dir«, flüsterte ich. Erst jetzt nahm er es mir ab und sah mir zufrieden nach, als ich ein neues Glas für mich von einer Kommode gegenüber des Kamins holte. Ich kehrte zu ihm zurück, schenkte mir selbst ein und zog meine beiden Pumps aus, die unglaublich schmerzten. Währenddessen hatte Raymond etwas hinter einem der Kissen hervorgezogen: eine schwarze, samtene Schatulle. Vorsichtig öffnete er sie und zeigte mir das Diamantene Armband darin. Mit offenen Mund fuhren meine Fingerkuppen über den kalten Stein.
»Du bist verrückt«, flüsterte ich. Im nächsten Moment durchfuhr mich ein eisiger Schauer: ich erinnerte mich wieder an das Armband, das Jaden seiner Exfreundin gegeben hatte und immer noch bei Hazel und mir Zuhause lag. Raymond bemerkte die Gefühlswandlung in meinen Augen und schloss die Schatulle wieder. »Ich hätte nicht gedacht, dass es solch eine Reaktion hervorruft. Du siehst so blass aus wie ein Geist, Valerie«. Ich stand hastig auf »Das war ein Fehler... ich hätte nicht herkommen sollen. Es tut mir leid, Raymond«.
Hastig griff ich nach meinen Schuhen auf dem Boden, doch Raymond hielt mich zurück »Bitte bleib«, flüsterte er fast flehend. Ich klappte förmlich neben ihm zusammen »Ich kann das nicht«, murmelte ich entschuldigend »Das alles ist einfach nur falsch. Und außerdem solltest du fremden Mädchen nicht so etwas teures schenken... du bist wie Jaden... und am Ende wundert ihr euch, warum ihr nur so oberflächliche Frauen heiratet«.
Raymond strich über meine rechte Wange »Ich dachte nur, dass du die richtige bist. Bitte bleib, ich verspreche dir auch, dir nie wieder irgendetwas zu schenken«. Ich begann zu lächeln »Vielleicht sollte ich noch ein paar Minuten bleiben«.
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Jaden
Romance»Liebe macht süchtig. Und jeder weiß, dass uns jede Sucht am Ende zerstört«, flüsterte er mit rauer, gedämpfter Stimme. Ein bitterer Geruch von kaltem Rauch drang aus seinen Lippen. Seine grünen Augen glänzten matt in dem blauen Neonlicht über uns...