Kapitel XVII.

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XVII.

Die Nacht war lang. Wir verbrachten sie bei Tee und Kerzenlicht im Wohnzimmer, während es draußen aus allen Eimern schüttete. Alasdair saß auf dem Boden, vor ihm lag eine Karte die von Stunde zu Stunde immer mehr Gestalt annahm.
Ich hingegen saß in einer Decke eingekuschelt auf dem Sofa und beobachtete ihn, dachte über alles Mögliche nach.
Irgendwann wurde es mir zu langweilig, ich rutschte von dem leicht zerkratzten Stoff und betrachtete interessiert die Linien, die er auf Pergament gezeichnet hatte.
Es zeigte die britischen Inseln und eine winzige Ecke Frankreich, Alasdair war gerade dabei lange Linien einzuzeichnen. Seine Hand hielt die Feder erstaunlich elegant, manchmal tauchte er sie in das kleine Tintenfass.
„Was ist das?“
„Längengrade“ murmelte er konzentriert und setzte die Feder erneut an. „Wenn wir die Koordinaten finden, stoßen wir auf etwas vermutlich sehr wichtiges.“
Er zeichnete tatsächlich Längen- und Breitengrade ein, einfach so aus dem Kopf! Staunend betrachtete ich ihn, schlug die Decke enger um mich und bemerkte nicht mal das verzauberte Lächeln auf meinen Lippen.
„Woher weißt du wo sie sind?“
„Angus, mein Onkel hat sie uns eingetrichtert. Er meinte ein Mann müsste sich auf der gesamten Erdkugel auskennen. Er hat uns in den wichtigsten Dingen unterrichtet, solche die ein Gelehrter eben nicht unbedingt lehrt. Schau da.. in Lunnainn ist der Nullmeridian, der nullte Längengrad. Von dort beginnt also die Zählung. Wenn wir also wie in der Angabe dieses Foleys -5.10°westliche Länge haben, bedeutet das ungefähr 5° von Lunnainn in Richtung Westen. Genauer gesagt, liegen auf diesem Längengrad mehrere Dörfer, unter anderem Irvine und auch Glencoe. Die Breitengrade hab ich zwar noch nicht eingezeichnet, aber sie beginnen mit dem nullten-Grad an der waagerechten Achse der Erdkugel. Die sind ein wenig schwieriger zu merken.. aber wenn wir es einmal haben, werden wir wissen was genau er damit gemeint hat.“
„Meinst du, also denkst du dass es etwas mit unserem Problem zu tun hat?“
„Ich gehe davon aus. Du hast gesagt du hast ihn gesehen, er hat mit dir gesprochen. Und ich glaube dir.“
Ich nickte und ging noch einmal tief in mich. Nein, ich hatte mir das nicht einfach nur eingebildet. Dieser Mann hatte da gestanden, ganz sicher.
„War es ein Geist?“ rutschte mir dann die Frage heraus, über die ich eigentlich nicht mal nachdenken wollte. Aber hier war schließlich alles möglich!
Alasdair sah von seiner Karte auf und runzelte die Stirn. „Ich kann es dir nicht sagen, Jean. Vielleicht war es eine Fee, vielleicht auch nicht.“


Gegen vier Uhr morgens war er fertig. Ich war inzwischen auf dem Sofa eingenickt, wachte aber auf als Alasdair sich erhob. Alles an ihm rasselte oder knarzte und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
„Guten Morgen, Glaistig“ begrüßte er mein Erwachen mit verschmitztem Grinsen und deutete auf die Karte. „Ich bin fertig. Foley meinte eine weite Fläche, nördlich des Stadtkerns.“
Verschlafen fuhr ich mir durch die Haare und stutzte dabei. „Wer ist Glaistig?“
„Glaistig, meine Liebe“ begann er und hob mich kurzerhand einfach auf seine Arme. Die lange Decke hing noch halb an mir wie ein Brautkleid, aber ohne dem Beachtung zu schenken trug er mich in Richtung Schlafzimmer.
Schotte!
„War eine wunderschöne Frau, so eine die sturer war als jeder Felsen.“
Er ließ mich auf dem Bett nieder und ich raffte die warme Decke wieder um mich. „Soll ich das jetzt als Kompliment oder als Beleidigung verstehen?“
Alasdair grinste und schlüpfte aus seinen Stiefeln, ehe er über das Bett krabbelte und unter die Decke kroch. „Vermutlich beides .. ich erzähl es dir, aber erst wenn du zu mir kommst.“
Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen, kaum war ich drunter, schloss er seine Arme um mich und zog mich näher. „Du kennst die Sage von Glaistig wirklich nicht?“
„Nein“ seufzte ich leise und hätte fast angefangen zu schnurren, als mein Kopf das weiche kühle Kissen berührte. „Erzähl sie mir.“
„Nun, es gibt einen von Inseln gesäumten Meeresarm im Westen, man nennt ihn Firth of Clyde, dort auf der Insel Arran lebte die wunderschöne Glaistig. Man sagt sie habe Haar wie Ebenholz gehabt und ihre Augen sollen wie die See gefunkelt haben. Sie war zwar menschlich und blieb es auch, aber über die Jahre nahm sie die Eigenschaften einer Fee an. Sie alterte nicht, konnte sich aussuchen wem sie sich zeigte und wem nicht. Wie alle Feen lebte sie für die Natur, für Wiesen und Wälder, Flüsse und Bäche. Jedenfalls hielt sie sich weiterhin am liebsten in der Nähe der Menschen auf, sie mochte sie einfach.
Nachts, kaum waren die Sterne am Himmelszelt zu sehen, stieg sie die Hügel hinauf und achtete auf das Vieh der Menschen. Manche behaupten sie habe sich in einen Bullen, einen Feen-Mann verliebt, andere behaupten sie habe es aus bloßer Zuneigung zu den Menschen getan.
Eines Tages wurde sie jedoch von einem Bauer so schwer beleidigt und von den Wiesen gejagt, dass sie sich nie davon erholte. Glaistig war so empört und verletzt, das sie beschloss die Insel zu verlassen.
Ihr Ziel war das Festland und um dorthin zu gelangen, beschloss sie die wesentlich kleineren Inseln Beinn Bhuide und den Fels Alisa Craigh als Trittsteine zu nutzen. Sie war schon fast an der Küste, als ein Dreimaster vorbei fuhr und sie mit dem Fuß an ihm hängen blieb. Glaistig verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und fiel ins Meer. Seit dem hat sie niemand mehr gesehen, manchmal berichten die Einwohner der Insel von einem dunklen seidenen Glanz unter Wasser, der ihr Haar sein soll, manchmal verschwindet er jedoch wieder.
Seit ihrem Verschwinden vermissen die Menschen von Arran sie, das Vieh wurde krank oder von Räubern gestohlen. Alle haben ihren Wert erst erkannt, als sie verschwunden war.“
„Das klingt wunderschön..“ murmelte ich leise und ergriffen von dieser Erzählung die nicht hätte bunter und lebendiger sein können. Alasdair konnte wunderbar Geschichten erzählen.
Farben vermischten sich vor meinem inneren Auge und tauchten plötzlich alles in gedämpftes Licht. Ich sah Alasdairs Umrisse, er saß an einer kleinen Kaminstelle auf einem hölzernen Stuhl. In seinen Armen lag ein schlafendes Bündel, goldenes Haar lugte unter Fellen und Decken hervor, eine kleine Faust streckte sich gerade aus. Es war als würde ich seine Stimme vernehmen, sie erzählte dem Neugeborenen in seinen Armen etwas, ich lauschte einen Wimpernschlag und erkannte das melodiöse Gälisch, jenes das aus seinem Mund immer wie die schönste Liebkosung klang. Gerade als mein Verstand begann das Bild zu realisieren, verschwand es und ich sah wieder nichts als die Vertäfelung der Decke über uns.
„Meine Mutter hat sie uns als Kinder immer erzählt … wir sollten schlafen, Jean. Der Morgen graut schon.“

22 Days;Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt