Kapitel XIV.

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XIV.


Kaum war ich in mein Auto gestiegen, atmete ich erst mal erleichtert durch. Alasdair hatte mich gehen lassen, sein Blick war mir bis hier her gefolgt, ich spürte ihn in meinem Rücken. Ich wusste er vertraute mir in einem gewissen Maß, das Maß das die Situation zuließ, aber er war sich unsicher. Unsicher ob er nicht zu viel gab, unsicher ob er auf meine Worte setzen konnte oder eben nicht.
Allerdings hatte ich bei aller Wahrheit wirklich keine bösen Absichten, es kamen Dinge und gingen genauso schnell. Mein Kopf schien mir wie eine Station, eine Station durch die jemand versuchte mit meinem Gehirn zu kommunizieren. Es gab Dinge an denen ich verzweifelte und dann waren da Dinge die ich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit wusste. Ich weiß nicht wieso und warum ich der Meinung war, es gab schließlich nicht die leisesten Anzeichen, aber ich war mir so sicher als läge die Tatsache schon vor mir.
Das war verrückt und gleichermaßen faszinierend – es machte mir Angst.
Seufzend steckte ich den Schlüssel ins Zündschloss und parkte aus, ich musste hier weg. Wenigstens für einen Moment.
Tatsächlich war ich mir fast sicher zu wissen wo ich den Spiegel – ich zweifelte nicht mehr dass es einer war – finden würde.
Bevor ich mich allerdings auf die Suche machte, hielt ich kurz bei dem kleinen Supermarkt wo ich Anfang der Woche schon eingekauft hatte, die Vorräte gingen zur Neige.
Mit Butter und Brot, Käse und geräucherten Würsten, ein wenig Quark, Gemüse, vier frischen Fischen und Fleisch schlenderte ich zur Kasse, bezahlte und ignorierte die nett gemeinten Scherze über mein »minimalistisches« Mahl. Es war einfacher so, Fisch, Würste, Käse, Butter – das waren alles Dinge die er kannte, die ihm keine Angst machten und mir unangenehme Fragen ersparten. Schließlich versteckte ich einen 300 Jahre alten Schotten in meinem Haus, das war eine Sache die man nicht so einfach abtat.
Ich lud es in den Kofferraum, schaffte den Einkaufswagen zurück und ließ mich dann wieder hinterm Steuer nieder. Und dann dachte ich nach.
Die pure Wahrheit, die pure Wahrheit sollte es zeigen.. nun, nicht viel zeigte die pure Wahrheit. Mir fiel wirklich nichts anderes als ein Spiegel ein, ich .. keine Ahnung, aber ich war mir sicher dass es einer war. Er zeigt Wahrheit, er zeigt Schönheit, aber am deutlichsten kann er mir meine eigenen Augen zeigen.
Großmutter musste einen Spiegel gemeint haben, ich war mir so sicher wie noch nie zuvor.
Entschlossen parkte ich aus und machte mich auf den Weg durch die engen Straßen Glencoes. Irgendwo musste hier doch ein Antiquitätenhandel sein, ein Flohmarkt, ein Stand mit altem Zeug .. irgendwas!
Als ich an einer kleinen Kreuzung abbog, fand ich tatsächlich so etwas Ähnliches wie einen Mini-Flohmarkt. Ein paar Touristen standen dort und betrachteten Dinge die auf jedem Flohmarkt zu finden waren. Es war nicht besonders und den Namen »Markt« verdiente es mit Sicherheit ebenfalls nicht, aber ich wagte den Versuch.
Mit flinken Schritten huschte ich durch die quasselnden Touristen und betrachtete das Angebot der Stände – alte Schallplatten, Kleider, Felle, mehr oder weniger hässlicher Schmuck, Vasen, Gläser, Spielzeug, Brettspiele, Kuscheltiere, der übliche Tand eben.
Ein älterer Herr hatte Dinge  die etwas antiquierter aussahen, einen sicherlich wirklich alten Kronleuchter und ein paar Vasen, die mit Sicherheit ebenfalls schon einiges auf dem Buckel hatten.
Als ich ihn fragte wie alt, zuckte er nur mit den Schultern. „Ist aus dem Haus meines Schwiegervaters, vor ein paar Wochen gestorben.“
Ich nickte, kniff die Augen zusammen und scannte das wenige Angebot, aber nichts ließ auf einen Spiegel oder ähnliches deuten. „Haben sie Spiegel?“
„Spiegel? Nein.. Spiegel nicht, Barney war nicht sonderlich eitel.“
Seufzend nickte ich, verabschiedete mich mit einem „Gott hab ihn selig“ und suchte weiter. Beim nächsten Stand, betrieben von einem jungen Ehepaar, entdeckte ich zwar einen Handspiegel, aber der war so jung, das er niemals das sein konnte was wir suchten.
„Was suchen sie denn?“ fragte die junge Frau, „Ein Erbstück?“
„So ähnlich“ murmelte ich, nicht ganz sicher wie ich das am besten ausdrücken sollte. „Es ist ein wenig .. komisch. Ja, aber ein Erbstück meiner Großmutter.“
„Oh das tut mir leid“ Auf ihrem Gesicht erschien ehrliches Bedauern, ihre blonden Locken kringelten sich um ihre Schultern – sie war hübsch, aber irgendwie ein wenig bäuerlich.
Nicht das es mir etwas ausmachte, aber .. nun gut.
„Wissen sie wie er aussieht?“
Oh Scheiße! „Nein, nein, aber er ist sehr wichtig für mich.“
„Das glaube ich ihnen!“ Sie lächelte und auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen, „Gibt es denn keine Verwandtschaft mehr die eine Ahnung haben könnte?“
Ja, aber die war seit ... nein, ich konnte meine Antwort ja nicht mal im Geiste in Worte fassen. „Nein, ich komme ja nicht mal wirklich von hier.“
„Hab ich mir schon gedacht, ihr Akzent verrät sie. Suchen sie einfach weiter, mhm? Vielleicht haben sie ja doch noch Glück.“
Ich nickte langsam, schenkte ihr noch ein Lächeln und verabschiedete mich mit einem kurzen Wink. Das Gras unter meinen Schuhen war kurz und braun, ich sah auf meine Füße während ich weiter lief.
„Ach an nic Eilidh?“ rief auf einmal jemand, ich drehte mich verwundert und sah in die grünfunkelnden Augen der blonden Frau des Flohmarktstandes, sie lächelte. „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“
Damit drehte sie sich weg, begann ein Gespräch mit einer neuen Kundin. Ließ mich einfach so stehen, hier in mitten der Menschenmenge und ich wusste im Moment weder vor noch zurück.
Hatte sie gerade Eilidh gesagt? Heftig blinzelnd schluckte ich einmal hart, spürte wie trocken mein Hals war und presste meine Faust auf mein schnellschlagendes Herz. Ich fürchtete es würde mir sonst aus der Brust springen.
Ich wollte hier nur noch weg.
So schnell es ging hechtete ich durch die Menschen hindurch, rempelte ausversehen jemanden an und war dann so erleichtert als ich in meinem Auto saß, das man es hätte nicht mal beschreiben können.
Schon fünf Minuten danach redete ich mir ein das die Frau verrückt war, ich mir das alles nur eingebildet habe, es ein Streich meines verwirrten Verstandes war, ein Ruf nach Lösung und Erleichterung.
Aber es war keiner, das wusste ich ganz genau.
Ich musste Alasdair unbedingt fragen was nic bedeutete.
Seufzend trank ich einen Schluck Wasser, sammelte mich und meine Gedanken – schließlich ging es hier nicht um mich, sondern verdammt noch mal um Alasdair – und fuhr dann weiter. Ich konnte mich jetzt nicht gehen lassen, nicht nachdenken, wir mussten dieses verdammte Rätsel lösen, es war schon wieder viel zu viel Zeit vergangen.
Aufgewühlt wie ich war, verfuhr ich mich zwei Mal und irrte durch das Geflecht von Straßen, Gassen und Wegen, hier in mitten dieser verflucht kleinen, aber verwinkelten Stadt.
Hier musste es doch irgendwo einen Antiquitätenladen geben!
Ich suchte sicherlich noch zwanzig Minuten lang und wurde schon unsicher, schließlich wollte ich Alasdair nun auch nicht zu lange allein lassen, aber plötzlich blitzte es in eine der winzigen Nebengassen auf. Ich zog das Lenkrad im letzten Moment zur Seite und parkte mehr oder weniger gut in eine der Parklücken auf dem Marktplatz ein, riss meine Tasche vom Beifahrersitz und schlug die Tür hinter mir zu.
Von hier sah man es fast gar nicht, aber als man näher heran ging wurden die Details schärfer. Die Gasse war gerade so breit das zwei Leute nebeneinander laufen konnten, eine Frau mit einem jungen Schäferhund kam mir entgegen, aber mein Blick lag wie gebannt auf dem kleinen Geschäft.
Es sah mehr als nur schäbig aus. Zwei große vergilbte Fenster waren bis oben vollgestopft mit allerlei Zeugs, mitten drin befand sich erhöht durch zwei Stufen eine schmale, kleine Tür. Die Klinke war abgegriffen, der braune Holzlack blätterte überall ab, in den Ecken woben sich Spinnen und Staubnetze. Über der Tür prangte ein großes Schild, in Großbuchstaben stand dort »Antiquitäten«, das A war so abgeblättert das man es nur noch zur Hälfte erkennen konnte.
Alles in allem war es ein Bruchbude, ein Wrack menschlicher Erinnerung, aber genau das war ja mein Ziel. Entschlossen sprang ich die Stufen hinauf und schob die Tür auf. Eine Klingel spielte über meinem Kopf ihr nerv-tötendes Lied, die Luft war so dick und stickig, das ich augenblicklich nach Sauerstoff schnappte.
Hier drin sah es genauso aus wie es von außen scheinen ließ. Vollgestopft bis unters Dach, auf jedem und allem lag eine feine Schicht Staub, sie tanzten in dem Lichtstrahl, der zu den Fenstern hinein fiel.
Langsam und bedacht ja nichts umzuwerfen, trat ich um die Ecke und traf direkt auf ein paar silbergraue Augen. Vor Schreck blieb ich stockend stehen, fasste mich dann und trat auf die kleine hölzerne Theke zu. Der alte Mann mit den grauen Augen beobachtete jeden meiner Schritte. Sein gelbliches Hemd steckte in dunkelbraunen Latzhosen, sein schütteres Haar tummelte sich ein wenig wild auf seinem Kopf, das wettergegerbte Gesicht verzog keine Miene. Ich hatte noch nie so durchdringend helle Augen gesehen.
„Hallo?“ wagte ich es und lächelte leicht. Immer noch verzog er keine Miene, er war nicht direkt unfreundlich, misstrauisch vielleicht.
„Madainn mhath“ brummte er in seinen nicht vorhandenen Bart, „Wie kann ich dir helfen?“
„Na ja..“ ich sah mich nervös um, „Ich suche ein Erbstück. Einen Spiegel.“
Er nickte langsam, ließ mich immer noch nicht aus den Augen und je länger er mich so intensiv ansah, desto unruhiger wurde ich. Ich hatte das Gefühl dieser Mann wusste so viel mehr als er zugeben wollte, so viel mehr als ich jemals begreifen konnte.
Er sah mich nicht interessiert an, sondern ergründend. Wusste er etwas? Konnte er etwas wissen?
„Und du glaubst dass ich den hier habe?“
Im ersten Moment wusste ich partout nicht was ich darauf antworten sollte, deswegen nickte ich leicht. „Ich weiß es nicht.. deswegen bin ich ja hier.“
„Nun gut“ er erhob sich und deutete in einer vagen Bewegung seiner Hand auf das gesamte kleine Geschäft. „Sieh dich dort um, vielleicht findest du etwas. Ich schau nach was ich hier hinten noch habe.“
Das meiste Zeug bestand aus alten Büchern, Besteck, Leuchtern, Lampen, Bildern, dem üblichen Kram eben.  Und doch fand ich einen mannshohen Spiegel mit aufwendig verziertem goldenen Rahmen, allerdings bezweifelte ich das es das war was ich suchte.
„Der?“ brummte die Stimme auf einmal hinter mir und ich fuhr erschrocken zusammen. Nervös drehte ich mich zu ihm, schüttelte mit dem Kopf. „Ich glaube nicht.. ich weiß es aber auch nicht.“
Er nickte und stellte zwei große Kisten und eine kleinere auf die Holztheke, „Ich hol ihn mal runter, vielleicht steht hinten was drauf.“
Der Spiegel musste utopisch schwer sein, der Mann ächzte unter dem Gewicht. „Du musst lesen, Mädchen. Ich hab meine Brille nicht hier.“
Ich schluckte und während er den Spiegel so hielt damit ich was erkennen konnte, fuhr ich mit den Fingerspitzen darüber und versuchte mit den Augen etwas auszumachen. Aber da war nichts drauf, absolut überhaupt nichts – wahrscheinlich war es einfach ein Stück aus einem wohlhabenderen Haushalt.
„Nein“ seufzte ich und stand bedauernd wieder auf, „Ich glaube nicht das er es ist. Haben sie noch etwas gefunden?“
Er hing den Spiegel wieder auf und kam dann zurück zu mir, ließ sich auf seinen kleinen Hocker nieder und nickte dann leicht. „Spiegel gehen nicht gut, wer braucht heute auch noch einen Handspiegel oder Ähnliches?“ brummte er dann leise vor sich hin und griff nach der ersten großen Kiste. „Hier müsste einer drin sein, schau nach Mädchen.. ich schau hier hinein.“
Ich öffnete die schwere Holzkiste vorsichtig und war im ersten Moment überwältigt von so vielen alten Dingen. Besteck, nicht poliert, Schmuck teilweise ein wenig rostig oder kaputt lag darin, Perlen rollten vor sich hin, ein kleines Gemälde, gerade so groß wie meine Hand und eine Taschenuhr sahen mir entgegen.
Ganz unten jedoch fand ich auch etwas dass mein Interesse erweckte – tatsächlich lag darin ein kleiner Handspiegel. Er war hell und mit Blumen bemalt, der Spiegel jedoch zerkratzt und gesprungen. Obwohl ich keinerlei Ahnung hatte, war ich mir sicher dass es der nicht war. Die Blumen, die feinen Ornamente, die verträumten Ranken, das war feiner englischer Stil.
Hier fand man sogar ein kleines eingeritztes Datum, die ersten Zahlen konnte man nur noch schwer erkennen aber die letzte war unweigerlich eine 1892. Definitiv nicht das was ich suchte.
„Und?“
„Das ist er nicht, ich suche etwas aus dem 17 Jahrhundert. Das hier ist aus dem 19ten.“, gab ich betrübt von mir und fuhr mir durch die Haare. Wieder spürte ich den Blick der silbergrauen Augen auf mir, aber ich hatte nicht genügend Mut ihn zu erwidern.
„Dir ist es sehr wichtig, hab ich Recht?“
Ich sah auf und schenkte ihm ein mildes Lächeln bevor ich mir die nächste Kiste ansah. „Sie haben keine Ahnung wie sehr.“
„Doch, doch ich glaube ich weiß wie sehr.“
Abrupt sah ich auf, „Was?“
„Nichts Kindchen, hast du was gefunden? Huch, wenn ich so überlege .. warte mal, warte mal, ich glaube ich hab da noch was irgendwo da hinten..“ Leise weiter vor sich hin murmelnd verschwand er wieder hinter dem schweren braunen Wollvorhang und ich blieb verwundert wo ich war.
Er kam schon einige Sekunden später wieder, in seiner Hand lag ein kleiner Holzkasten, auf seinem Gesicht war nun endlich etwas anderes zu sehen als Gleichmut. Neugierde!
Er öffnete die Kiste und schob sie mir so zu und mein Blick blieb wie gebannt auf dem goldenen Handspiegel liegen. Er war nicht besonders aufwendig verziert, bestand lediglich aus zwei angedeuteten Flechten die sich ineinander rankten und somit den Spiegel umschlossen. Das Glas war noch gut erhalten, ich fuhr mit dem Zeigefinger darüber und fühlte es sofort.
„Woher haben sie ihn?“
Der alte Mann runzelte die Stirn und verscheuchte eine Fliege, „Ich  erinnere mich an eine .. Frau. Ja, eine Frau hat ihn samt diesen Kasten hier vorbeigebracht. Hat gemeint sie brauche ihn nicht mehr, nicht mal Geld wollte sie dafür! Hat nur gesagt ich soll den Kasten mit aufheben.. verständlich bei dem schönen Stück! Schau dir das Holz an, das ist feinste Schnitzkunst und der Spiegel aus feinstem Messing gegossen!“
Ich nahm ihn vorsichtig hinaus, drehte ihn und betrachtete die Rückseite. Blumenranken, fein ins Metall gearbeitet und eine Menge kleinere Details vereinten sich zu einem ganz neuen Kunstwerk, in eine der Ranken war ein Name eingearbeitet und bestätigte mir meinen Verdacht.
Er musste es sein.
Schluckend sah ich auf, begegnete den silbergrauen Augen die nun wieder beobachtend, ja fast lauernd drein blickten.
„Wann hat die Frau ihn gebracht? Also .. können sie sich erinnern?“
„Na ja“ machte er grunzend, „Mein erstes Enkelkind war gerade geboren gewesen .. muss sicherlich 24 oder 25 Jahre her sein. Da hat drüben auch noch die alte Mrs. Hamwis gelebt.“
24 Jahre, 24 Jahre, 24 Jahre, schoss immer die gleiche Wortgruppe durch meinen Kopf.
Vor 24 Jahren wurde ich geboren, vor 24 Jahren war meine Großmutter noch einmal hier gewesen. Sie hatte den Spiegel hier vorbei gebracht, die Frage war nur warum? Nun, es machte keinen Sinn drüber nachzudenken, ich würde eh keine Antworten bekommen.
Ich stand auf und nickte, „Gut, ich möchte ihn haben.“
Er sah keinesfalls überrascht aus als er langsam nickte. „Ich gebe ihn dir umsonst.“
„Was!?“
„Kein Was, ich gebe dir ihn und fertig. Nimm ihn Mädchen, er passt gut zu dir.“
Er schob mir den Kasten über die Theke entgegen und ein feines Lächeln erschien auf seinen spröden Lippen. „Nun geh schon bevor ich es mir anders überlege.“
„Das kann ich nicht annehmen!“ platzte es auch schon aus mir heraus, ich kramte in meiner Tasche und förderte mein Portmonee zu Tage, aber der Mann winkte stur ab. „Hör auf Mädchen, nun nimm schon und geh.“
„Aber.. Warum?“
Er schwieg, in seinen Augen blitzte es auf, aber er schwieg. Unsicher wollte ich ihm einen Schein auf die Theke legen, aber er sah plötzlich so böse drein dass ich es aus Angst ließ.
„Nun geh.“
Schluckend griff ich nach dem Kästchen und nickte eilig, „Vielen, vielen Dank.. das ist mehr als nur großzügig.“
Er nickte und kam mir ein paar Schritte hinterher als ich in Richtung Tür ging. Ich war schon auf den Stufen, als ich seine Stimme noch einmal vernahm.
„Die Frau hat damals zu mir gesagt ich solle ihn nur einem Mädchen anvertrauen, deren Haare so rot funkeln wie ich es noch nie in meinem Leben zuvor gesehen habe. Nun, ich bin 72 Jahre alt und nun stehst du vor mir. Du bist es, Mädchen.“
Schluckend blinzelte ich gegen das Sonnenlicht und nickte dann langsam, „Ja. Ich bin es wohl.“


Weil ich zu aufgewühlt war, um nach Hause zu fahren und mit Alasdair konfrontiert zu werden, fuhr ich in Richtung des Tals von Glencoe. An der gleichen Stelle an der ich damals mein Auto geparkt hatte, hielt ich auch dieses Mal und lief mit dem Kasten in der Hand über die feuchten Wiesen.
Der Stein an dem ich Alasdair gefunden hatte, lag genauso da wie damals – es hatte sich nichts verändert.
Auch dieses Mal ließ ich mich darauf nieder, verschränkte meine Beine im Schoß und legte den Kasten vor mich.
Der Spiegel war wirklich außergewöhnlich schön, nicht besonders verziert oder funkelnd, aber er war in seiner Einfachheit schön. Ich nahm ihn hinaus, drehte und wendete ihn und warf einen Blick hinein.
Der Wald hinter mir war dicht und der Himmel über dem Tal Grau.
Ein wenig unheimlich war es hier oben schon, vor allem da ich nun wusste dass hier irgendein Geheimnis wartete.
Seufzend betrachtete ich die Kiste, suchte einen Hinweis und fand ihn nach einer Weile auch. Unter dem Samtkissen lag ein zusammen gefaltetes Stück vergilbtes Papier.
Als hätte ich es nicht gewusst!
Es vorsichtig auseinander faltend, legte ich die Kiste und den Spiegel neben mir auf den Erdboden.

Feasgair math, kleine Jean.
Ihr habt es geschafft, ich kann nicht in Worte fassen wie stolz ich auf euch bin. Ihr habt die Hälfte geschafft, vier Lösungen noch und das Schicksal wird seinen Lauf nehmen.
Erkennst du meinen Namen in dem Spiegel? Fingal hat ihn für mich fertigen lassen und ich habe ihn geliebt, so sehr geliebt und ich bin nun überglücklich zu wissen dass du ihn tatsächlich gefunden hast. Er wird seine Aufgabe noch erfüllen.  
Tatsächlich kannte ich Henry – er hat das Geschäft doch noch oder? – seit Ewigkeiten. Er ist ein bisschen griesgrämig, aber im Grunde seines Herzens ein guter Mann.
Nun wie auch immer, der nächste Schlüssel ist der wichtigste von allen. Er ist Anfang und Ende der Liebe, der letzte Grundpfeiler wenn alles einstürzt. Suche Treue, Jean.
Du musst sie suchen um sie zu finden und finden um sie zu suchen. Es gibt kein schöneres Gefühl als zu wissen dass man sich auf einen Menschen bedingungslos verlassen kann, dass man Worten Glauben schenken darf, das man sein Herz für jemanden öffnen kann.

Geächtet, verbannt von Kaiser und Land,
Verschollen im Kerker und Ketten,
Und alle Freunde von ihm gewandt,
Und sein Schwert kann ihn nicht erretten! -
Doch fern im heimischen, nordischen Gau
Vernahm's die geliebte, getreue Frau.
Sie stieg von der hohen Burg herab,
Umtost von schneidenden Winden,
Und zog die Straßen auf und ab,
Den Heißgeliebten zu finden,
Mit blutendem Fuß, mit zerrißnem Kleid
Und tief im Herzen der Liebe Leid.
Sie fragte die Straßen hin und her:
"Oh sprecht, habt ihr ihn gesehen?" -
Doch keiner sagte noch wußt' es mehr,
Und alle hießen sie gehen.
Sie aber wanderte weiter durchs Land,
Bis daß sie vor seinem Kerker stand.
Sie konnt' ihn nicht hören, nicht schau'n sein Gesicht,
Nicht Freiheit, noch Einlaß erwerben,
Wich Tag und Nacht von dem Kerker nicht,
Wollt' lieber mit ihm verderben,
Mit blutendem Fuß, mit zerrißnem Kleid,
Im treuen Herzen der Liebe Leid.

Liebe ist ohne Zeit, Jean, und so unerschütterlich wie Stein.

Mehr darf ich dir nicht sagen, aber ich weiß dass ihr ganz nah dran seid, haltet durch! Ich habe Glauben in euch. Ich wünsche dir das allerbeste, mo cridhe, du wirst von mir hören – aber vergiss die Zeit nicht!
In Liebe, Eilidh     

Das war’s, mehr stand nicht darin und ich fühlte mich schon wieder an den Anfang zurückkatapultiert. Das Gedicht jagte mir eine Gänsehaut nach der anderen den Rücken hinunter. Es war anstrengend, unheimlich anstrengend. Sobald man irgendetwas gefunden hatte, stand man doch im nächsten Moment wieder an der gleichen Stelle.
Ob es sich tatsächlich irgendwann auszahlen würde? Nun, ich hoffte es! Zeit hatten wir nicht mehr, sie rann uns zwischen den Fingern hindurch wie Sand.
Seufzend steckte ich den Spiegel und auch den Zettel wieder in den Kasten und schloss ihn. Das war alles so unheimlich verrückt.
Alasdair, mein Sterbedatum, die Frau vom Flohmarkt, der Mann mit den silbergrauen Augen – ich hatte das Gefühl durchzudrehen, alle schienen was zu wissen, keinem konnte ich vertrauen.

Danke für alles, ich hab euch nicht vergessen! :D Ich hab die Leser-Zahlen gesehen und war total geflasht..wow, dankeschön! <3

PS: Das Gedicht ist von Therese Dahn und heißt ‚Treue‘ (1899)

22 Days;Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt