Kapitel XVI.

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XVI.

Mrs. Graham sah uns über den Rand ihrer Brille zweifelnd an. Sie hatte wohl nicht erwartet uns noch einmal zu sehen und dennoch standen wir jetzt hier.
„Sie schon wieder! Wie kann ich ihnen helfen?“ näselte sie.
„Nun ja“ begann ich langsam und mehr als nur stockend, „Wir suchen noch immer etwas.. dürften wir noch einmal in die Unterlagen schauen? Ich .. na ja... also ich suche den Ort an dem mein Ur-Ur-Ur-Großvater begraben ist, also ob er hier in Glencoe auf dem Friedhof begraben ist.“
Sie sah mich wie mich früher meine Mathelehrerin angesehen hatte. Sie hatte den gleichen Blick gehabt wenn ich diese verdammten Rechenpyramiden mal wieder nicht verstand. Tat ich bis heute nicht. Schrecklich!
„Wann ist ihr Ur-Ur-Ur-Großvater denn gestorben?“
Hilfesuchend sah ich zu Alasdair. Keine Ahnung! Der blinzelte angestrengt und erwiderte meinen Blick genauso ratlos. „Also .. er hat 1541 geheiratet.“
Jetzt runzelte sie die Stirn, ihre Brille rutschte noch weiter auf die spitze Nase, sie sah aus wie ein Geier. „So alte Unterlagen haben wir nicht.“
„Aber“ –„Nein! Wir haben zwar Totenbücher, aber da ist nicht niedergeschrieben wo wer begraben wurde. Und die Unterlagen für die Friedhöfe gehen nur zurück bis 1801. Davor hat sie der große Brand ausgelöscht.“
Ging es eigentlich noch deutlicher? Wir standen in einer Sackgasse, mal wieder. Nicht mal mehr der Holzweg war uns gegönnt, nein, es musste die altbekannte Sackgasse sein.
Alasdair schnaufte unwirsch, „Sind sie sicher?“
Mrs. Graham plusterte empört ihre Backen auf, ihr Blick aus den Geieraugen lag schneidend auf ihm.
„Ja das bin ich! Wer sind sie überhaupt hier schon wieder in solch einer Auffassung herum zu laufen? Sie machen mir den Boden hier schmutzig und die Zottel die sie ihre Haare schimpfen hätten nebenbei auch mal wieder ganz dringend einen Schnitt nötig! Und jetzt bitte ich sie zu gehen, einen schönen Tag noch!“

„Hat sie uns gerade rausgeworfen?“ fragte Alasdair staunend, kaum standen wir vor der Tür die die gute Frau uns eben vor der Nase zugeknallt hatte. Was war heute nur mit den Menschen los?
„Ich“ begann ich, nicht wissend was ich eigentlich sagen wollte, „Uhm.. ja. Ich glaube.“
„So eine Ziege“ knurrte er kopfschüttelnd und sah mich dann fragend an, „Und jetzt? Wie gehen wir jetzt vor?“
Sein zweifelnder Blick sprach mal wieder Bände, wir hatten den ganzen Morgen Diskussionen über das Gedicht und das was wir suchen mussten, geführt. Alasdair war der festen Meinung es sei nicht das was ich dachte, ich hingegen war mir meiner Sache sicher. Großmutter meinte irgendetwas mit Tod, mit Steinen, mit Liebe, Treue und mit Zeit.
Und was wäre ein besseres Sinnbild für Treue weit über den Tod hinaus, wenn nicht ein Grab?
Zeit spielte dabei eine Rolle, Treue ebenfalls, Liebe sowieso und Steine.. ein Grab bestand aus Steinen. Es war zwar unheimlich, aber wenn es das war, wenn wir Alasdair und seine Familie damit retten konnten dann würde ich alles dafür tun.
Ich dachte einen Moment nach, verlagerte das Gewicht auf mein anderes Bein. Diese Sache zerrte an mir, ein unsichtbares Gewicht das mich nach hinten ziehen wollte.
„Wir schauen uns den Friedhof an, oder? Vielleicht finden wir ja was.“
Dass das selbst in meinen Ohren viel zu leicht klang, missachtete ich in diesem Augenblick. Warum nicht? Wir hatten bisher alle gelöst, Großmutter hätte nicht gewollt das wir hier nicht weiter wussten, sie wollte das wir des Rätsels Lösung fanden, irgendwie würde sie uns schon helfen.
Al nickte zweifelnd und drehte sich einmal um seine imposante Achse. Obwohl er schrecklich zerrissen  und zerrupft aussah, umgab ihn eine mächtige Aura.
Wie ein Mann den man aus einem 300 Jahre alten Schlachtfeld gerissen hatte, wie der Mann der er eben auch war.
Wir machten uns auf den Weg, ich wusste laut der kleinen Karte von Glencoe wo er in etwa liegen müsste, die Kirche zeigte uns nach nur wenigen Minuten mit ihrem Turm den man weit sehen konnte den richtigen Weg.
Glencoes Friedhof war größer als ich es erwartet hatte, durch ein Steintor trat man von den kargen Flächen die die Kirche umgaben, direkt auf die weite Wiese. Hier und da wuchsen sicherlich jahrhundertealte Apfelbäume, sonst standen Grabsteine wie Findlinge kreuz und quer auf den Wiesen.
Unsicher schluckte ich und griff nach Alasdairs Hand. Er sah mich zwar fragend und auch ein wenig staunend an, aber ich erwiderte seinen Blick nicht direkt. Ich hatte Angst, Angst dass er hier jemanden finden würde der aus seiner Zeit kam.
„Hast du Angst?“ raunte er und ehe ich mich versehen konnte, zog er mich ganz nah zu sich heran. Ich roch den Geruch von Leder und einen kleinen Hauch Schweiß, seine Haut die mich an prasselnden Eisregen auf eine siedende Grotte erinnerte.
„Nein..?“ kam es unsicherer als ich wollte zwischen meinen Lippen hindurch, seine Hand legte sich auf meine Wange und zwang mich meinen Kopf zu ihm zu drehen.
Er küsste mich. „Komm.“
Die kiesigen Wege knarzten unter unseren Füßen, Alasdair steuerte bewusst ältere Gräber an. Jene die schon halb vergessen hinter Gebüsch und Sträuchern waren, jene die Moos und Flechten  ein Zuhause gaben.
„Ist es nicht unheimlich“ begann er leise, während er mit der Hand den Ast eines Strauches zur Seite zog und dann den Kopf schüttelte, „Das das alles hier vergänglich ist? Selbst das letzte was von einem Menschen bleibt? Nicht mal das bleibt?“
Ich sah ihn nur an, was hätte ich auch sagen sollen? Ich befand mich geistig in einem Riesengebirge, klemmte in einer Schlucht, unter mir ging es tausende Meter in die Tiefe, die Steine waren scharf und kantig.
Während Alasdair suchte, legte ich den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Himmel. Typisch Schottland präsentierte er sich in verhangenem Grau, hier und da riss jedoch ein kleines Stücken blauer Himmel auf. Nach Regen sah es zumindest nicht aus, auch wenn es danach roch.
Wie von selbst trugen mich meine Füße einen kleinen Weg entlang, er war gesäumt von Unkraut und alten, teils schon verformten Grabsteinen. Eine unheimliche Stille trat über mich und die Welt um mich herum. Vögel sangen nicht mehr, Wind rauschte nicht mehr. Es war gruselig und doch auf eine vollkommene Art schön.
Plötzlich sah ich eine Bewegung rechts von mir, stockend blieb ich stehen, lauschte und entdeckte einen Mann. Er stand mit dem Rücken zu mir, sein schwarzer Mantel war lang und die leicht gebückte Haltung zeichnete ihn als Alten aus.
„Entschuldigen sie..?“ begann ich leise und trat noch näher. Er drehte sich um, unter seinem langen grauen Bart erschien ein leichtes Lächeln. Wie alt er wirklich war konnte ich nicht sagen, aber es mussten unheimlich viele Jahre sein, jedes einzelne stand in seinem Gesicht geschrieben.
„Ja?“ Zu meiner Verwunderung blieb er genau dort wo er war, kam keinen Meter heran und so wagte ich es schließlich. Als Friedhofswärter hatte man doch einen Überblick über die Gräber, oder?
„Ich suche .. ich suche ein Grab, das von Fingal Galbraith. Ich weiß das der Brand die meisten Aufzeichnungen zerstört hat, aber .. gibt es wirklich gar keine mehr? Ich muss dieses Grab finden, ich muss !“
„Nun“ machte er langsam und fuhr sich mit seiner wettergegerbten Hand über den Bart, „Wie ihr schon sagtet sind nahezu alle Aufzeichnungen dem Brand zu Opfer gefallen. Wir können einen Blick in die noch bestehenden werfen, wenn du möchtest, Kind.“
Ich nickte eifrig, musste unbedingt dieses verdammte Grab finden! Die Zeit verschwand, sie rutschte und rutschte und rutschte und rutschte.
Ich folgte seinem Handwink, sah mich noch einmal nach Alasdair um, konnte ihn aber nicht entdecken. Der Mann lief so schnell dass ich zusehen musste hinterher zu kommen. Er führte mich über weitere verwitterte Wege und schließlich standen wir vor der kleinen Kirche. Die Tür stand offen, er lächelte. „Komm, Kind.“
Ohne mich auch nur einmal zu wundern warum er mich Kind nannte, folgte ich ihm. Drinnen roch es nach Holz, stickig und feucht. Die Wände zierten Malereien, ein riesiges Kreuz aus Holz mit Jesus Christus hing am Giebel.
„Herr..? Wie alt ist diese Kirche?“
„Nenn mich Foley. Älter als du es dir vorstellen kannst“ lächelte der Alte gutmütig und suchte in einem kleinen alten Regal nach etwas. Als er es gefunden hatte, winkte er mich erneut zu sich. „Das ist das einzige Buch was man retten konnte.“
Besonders dick war es nicht, nicht mal so dick wie ein gewöhnliches Notizbuch. Ich schlug es auf, vergilbte Seiten stachen mir entgegen.
„Sieh es dir an, Kind. Ich schreibe meine Aufzeichnung zu Ende.“
Versunken nickte ich, war schon tief in Namen und Angaben längst vergangener Zeiten eingetaucht.  
Wie lange ich in dem vergilbten Buch las, konnte ich nicht sagen. Als ich es zuschlug und nicht eine Erwähnung eines Fingal Galbraith gefunden hatte, gaben sich Frustration und Verzweiflung die Hand.
„Nichts gefunden, mein Kind?“
„Nein, ich“ Eine erleichterte Stimme unterbrach meine Worte, es war Alasdair der da schwer atmend durch die Reihen von Sitzbänken auf mich zukam. „Jean! Herrgott noch mal! Hier bist du! Ich hab dich überall gesucht!“
„Ich war hier mit Foley“ ich drehte mich zu dem hölzernen Pult, wo er gerade noch gestanden und an seinem Dokument geschrieben hatte. „Foley?“
„Was für ein Foley?“ knurrte Alasdair und sah mich unverständlich an.
Schluckend schlug ich das Buch zu und sah mich um. „Er stand doch gerade noch hier! Ich hab doch .. er hat mich doch gerade gefragt ob ich etwas gefunden habe!“
Sein Blick sprach Bände. „Jean.. du bist hier ganz allein gewesen.“
„Was?“ verstört sah ich ihn an, fuhr mir nervös durch die Haare. „Er war doch gerade noch hier gewesen! Der alte Mann mit dem schwarzen Gewand und dem langen grauen Bart!“
„Jean hier war niemand, hier ist niemand. Außer du allein. Ich mach mir Sorgen um dich.“
Er kam näher, streckte die Arme nach mir aus, aber ich wich keuchend zurück. Mein Herz klopfte bis zum Zerbersten laut in meiner Brust.
„Jean“- „Nein. Alasdair.. ich .. ich bin doch mit dem Friedhofswärter mitgegangen! Er hat Bücher hier, dort.. siehst du? Das ist das letzte Buch was sie bei dem Feuer retten konnten, du musst mich doch gesehen haben! Alasdair, er .. wo ist er? Foley! Foley? Wo sind sie?“ rief ich quer durch die Kirche, aber nichts als der Schall meiner eigenen Stimme blieb.
Ich sah Geister, schoss es mir durch den Kopf. Oh Gott.
„Da war niemand, Jean! Du bist ganz allein auf einmal verschwunden, ich hab nur gesehen wie du um die Ecke mit dem Gebüsch verschwunden bist. Und zwar allein, dann warst du weg und ich hab dich gesucht. Als ich hier hinein gekommen bin, warst du hier drin allein. Ganz allein. Du hast mit dir selbst geredet.“
Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.
Nur dieses eine Wort hallte durch meinen Kopf.
Ich hatte nicht mit mir selbst gesprochen, ich hatte .. oh Gott. Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Wenn es wirklich einen Gott gab, dann begann ich in diesem Moment zu ihm zu beten.
Rette mich, hilf mir aus diesem Chaos heraus, hilf mir verdammt!
„Aber“ begann ich erneut, meine Stimme klang dünner als ich es jemals vernommen hatte. „Er hat dort gestanden und geschrieben! An seinen Aufzeichnungen hat er gesagt! Er .. er“ stammelte ich, stieg von dem kleinen Treppchen hinab zu dem hölzernen Pult.
„Al!“ stieß ich vor Schreck aus. Dort lag vergilbtes Papier, Sätze, der letzte nicht ganz beendet. Daneben lag die Feder. An ihrer Spitze klebte noch die schwarze Tinte, ein wenig war verwischt. Als ich sie anhob, war das Metall eiskalt.
Sie hätte warm sein müssen, schoss mir durch den Kopf, wenn der Mann hier gewesen wäre, hätte sie warm sein müssen. Fahrig strich ich mir durchs Haar.
„Was ist das?“
Ich konzentrierte mich nicht auf Alasdairs Frage, sondern auf die Worte vor mir. Je mehr ich las, desto mehr hatte ich das Gefühl das Blut würde mir in den Adern gefrieren.

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