Ich sitze auf meinem Bett und bin in meinen Laptop vertieft, meine Finger fliegen über die Tasten, sie zaubern Buchstaben, Worte und Sätze auf den Bildschirm. Ich habe meine Kopfhörer aufgesetzt, mit Musik im Kopf kann ich viel besser arbeiten. Ich arbeite an einem Projekt, das hoffentlich mein Leben und das vieler anderer Menschen verändern wird. Ich realisiere meinen Traum.Ich werfe einen Blick auf die Uhr-Anzeige am Rande des Bildschirms. Shit, schon kurz vor 12 Uhr, ich möchte noch etwas essen, bevor ich schlafen gehe. Mit einem Seufzen setze ich die Kopfhörer ab und lausche ins Haus hinein. Meine Eltern sind noch unten im Erdgeschoss, vorhin haben sie sich gestritten, das Geschrei habe ich sogar durch die Musik gehört. Wie jedes Mal hat sich ein Stein in meinem Magen gebildet und mich für Stunden nicht mehr verlassen, er ist sogar noch größer als die letzten Male geworden. Kalt und schwer. Eine unsichtbare Hand hatte sich um meine Kehle gelegt und mir die Luft abgedrückt, ich hatte das Gefühl, ich würde ersticken. Dann hörte das Geschreie auf einmal wieder auf und die Hand war verschwunden. Nur der Stein blieb.
Erleichtert, dass das Haus jetzt leise ist, schwinge ich mich von meinem Bett und die Treppe hinunter in die Küche. Dabei laufe ich am Esszimmer vorbei. Da sitzen die beiden. Am sich gegenüberliegenden Ende des Tisches, und beide schauen auf den Baum, an dem die Kerzen brennen.Heute ist der zweite Weihnachtsfeiertag und sie lieben es, die Kerzen am Baum anzuzünden und das Licht anzusehen. Ich mag den geschmückten Baum und die weihnachtliche Stimmung schon auch, aber ich brauche nicht stundenlang auf einen Baum starren. Egal. Ich sage nichts zu ihnen, nehme mir nur einen Teller aus dem Schrank und fülle ihn mir mit Nudeln aus dem Topf. Aufgewärmt nehme ich den Teller wieder mit nach oben, nicht ohne ihnen eine „Gute Nacht“ zu wünschen.
Wieder auf meinem Bett sitzend schiebe ich mir die warmen Nudeln in den Mund und lasse meine Hände über die Tastatur tanzen. Ich liebe das Gefühl, Charakteren Leben einzuhauchen, sie aufblühen und wieder untergehen zu lassen. Weil es ehrlich ist. Weil es das Leben ist. Weil es nur fair ist. Dem Leser gegenüber. Und sich selbst. Wer kann sich schon mit dem Charakter einer Prinzessin identifizieren?
Die Worte reihen sich aneinander, ergeben Sätze und Absätze, sie ergeben einen Zusammenhang, einen Sinn. Sie geben mir selbst einen Sinn, denn ich bringe sie auf die Tastatur in den PC, aufs Papier. Ich mache sie öffentlich. Zumindest ist das der Traum, den ich mir erfüllen will. Ein Exposé habe ich bereits verschickt, jetzt arbeite ich an den einzelnen Teilen meines Werkes, verfeinere, korrigiere, führe aus. Meine ersten Entwürfe sind nur der Rohbau, so sehe ich die Entwicklung meiner Werke. Aber der Rohbau muss stehen, damit man die Wände verputzen und schließlich streichen kann. Zu allerletzt wird das Haus dann möbeliert und behaglich gemacht. Und wenn ich das Gefühl habe, dass ich diesen Stand erreicht habe, lege ich das Geschriebene guten Gewissens beiseite und widme mich einer anderen Aufgabe. So einfach.
Noch einfacher, wenn man über seine eigenen Gefühle, seine eigenen Ängste und Fehler, seine eigene Vergangenheit schreiben kann. Mit meinen 18 Jahren habe ich bereits sehr jung meine beste Freundin verloren, meinen Großvater und meinen ersten Hund. Meine Großmutter habe ich auch schon überlebt. Das Leben prägt. Schicksalsschläge lassen Wunden zurück, oder zumindest blaue Flecken, die auch noch nach mehreren Jahren schmerzen. Die einen daran erinnern, was man verloren hat.Ich seufze, als der Cursur für eine Sekunde auf dem weißen Hintergrund tippt. Das Geschrei meiner Eltern dringt durch die Kopfhörer an meine Ohren, verursacht mir Bauchschmerzen und den Wunsch, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und zu vergessen, dass ich mit diesen beiden Menschen zusammenlebe. Oder dass diese zwei Menschen zusammenleben. Mir geht es nicht gut, wenn sie sich streiten. Ich mache mir Gedanken, will ihnen beiden etwas wiedergeben, ihr Leben gehaltvoller machen. Meiner Mutter möchte ich ein Haus an der See kaufen und meinem Dad einen Hobbykeller, in dem er Stunden damit zubringen kann, an Motorrädern und Computern herumzubasteln. Ich liebe meine Eltern, aber die Sorge um sie tut mir nicht gut. Sie schadet mir. Ich merke es an meinen Noten, an meinen Beiträgen in der Schule. Ist die Atmosphäre bei uns Zuhause spannungsgeladen, sinken meine Noten in den Keller. Haben meine Eltern gerade keine Probleme miteinander, steigt mein Durchschnitt wieder an. Es schlägt mir aufs Gemüt, dass sie es nicht einmal schaffen, zwischen Weihnachten und Silvester keinen Streit anzufangen.

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divers
ContoEin Band voller Kurzgeschichten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens der wohl unterschiedlichsten Menschen. Keine Schnulzen, nicht unbedingt happy Ends, meist offene Enden. Wer also nicht immer und immer wieder die gleichen Bücher mit de...