Kapitel 36

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Chris hievte sich aus seiner Hängematte. Er fühlte sich wie gerädert. Er war sicher, dass tiefe Augenringe sein Gesicht zierten und er schrecklich aussah. In dem Fall war er froh, dass es hier keine Spiegel gab, denn andernfalls würde er sich vor seinem eigenen Spiegelbild erschrecken, weil er wie ein Zombie aussah. Den anderen erging es allerdings nicht anders. Alle wirkten mehr wie wandelte Leichen, als das sie ausgeruht wirkten. Vermutlich hatte wirklich niemand ein Auge zugetan.

Chris rieb sich die Augen und das Gesicht, ehe er sich gänzlich erhob. Er musste aufpassen nicht auf irgendjemanden drauf zu treten, als er zunächst ein wenig wankte. Fast wäre er jemanden auf die Hand getreten, hatte es allerdings noch verhindern können. Auch einige andere saßen derweil wach da und starrten vor sich hin, ein paar wenige rafften sich ebenfalls auf.

Chris trat nach draußen ins Sonnenlicht. Selbst die warmen, freundlichen Sonnenstrahlen konnten sein Gesicht nicht erhellen oder den tiefen Trauerklos aus dem Camp vertreiben. Die Wachtürme waren weiterhin besetzt, rund um die Uhr und Chris war ein wenig erstaunt auf dem Nordturm immer noch Darek zu erblicken. Er stand seit gestern Morgen auf dem Turm und schien auch die ganze Nacht dort verbracht zu haben. Eigentlich wurde immer durchgewechselt. Es gab vier Schichten pro Tag, damit jeder sich auch mal ausruhen konnte und jeder auch mal Nachtwache schieben musste. Darek schien allerdings alle Schichten übernommen zu haben.

Chris zuckte herum, als es einen heftigen Schlag gegen das Tor gab, als hätte jemand etwas daran geworfen oder sich mit dem gesamten Körper dagegen geschleudert. Es hatte sich jedenfalls dumpf angehört. Einige Sekunden verstrichen, bis es erneut einen dumpfen Schlag gab. Wieder derselbe Ton.

Chris sah noch wie Yunho angerannt kam und die Leiter zu Darek erklomm. Chris setzte nach. Auch er wollte wissen was da draußen los war. Die Abfolge des dumpfen Polterns war gleichmäßig und beständig. Ächzen und Röcheln war zu hören und wenig später gesellte sich ein Kratzen und Schaben hinzu. Chris kraxelte eilig die Leiter empor und stellte sich dann neben Darek und Yunho, die vom Wachturm aus Richtung Tor sahen.

Nun konnte auch Chris einen Blick darauf werfen, was dort vor dem Tor vor sich ging. Drei Scratchers hatten sich dort eingefunden. Ein Mann warf sich mit der Schulter beständig gegen das Tor, wodurch das dumpfe Rumpeln verursacht wurde. Wie benommen und total hirnverbrannt warf er sich mit der Schulter voran gegen das Tor, immer und immer wieder. Er alleine hatte nicht genügend Kraft, um das schwerfällige Holztor zu bewegen, aber es war besorgniserregend, denn wenn genug Scratcher auf diese Idee kommen würden, wären sie gewiss in der Lage das Tor zu öffnen. Die zwei anderen, eindeutig weibliche Scratcher, hingegen schrien nur hysterisch und zerkratzten die Außenmauer des Walles. Tiefe Furchen bildeten sich derweil im Holz, dort wo sie ihre Fingernägel entlang schaben ließen. Es ließ Chris jedes Mal aufs Neue zutiefst erschaudern, wenn er diese irren Bestien sah und deren abgedrehte Verhaltensweise. Immer dann fragte er sich, was sie so irre machte. Wenn sie wirklich mal normale Menschen gewesen sein sollten, was gab es so abscheuliches, dass einen normalen Menschen in solch ein hirnverbranntes Wesen verwandelte?

„Verflucht, jetzt drehen sie völlig durch!" grummelte Yunho.

„Die Mauer ist sicher, oder?" hakte Chris nach, der allmählich deutlich seine Zweifel daran hegte, erst recht wenn er den Mann sah, der sich ständig gegen das Tor warf ohne auf Verluste zu achten.
Seine Schulter musste derweil höllisch wehtun und das sie noch nicht gebrochen war, war wahrlich ein Wunder, so wie er sich immer dagegen warf. Vielleicht war sie sogar derweil gebrochen oder das Gelenk ausgekugelt, es interessierte diese Kreatur nur nicht. Allein das Hinsehen sah jedenfalls schon schmerzlich aus und auch die zwei Frauen, die ihre Fingernägel immer wieder über das Holz zogen, schürften sich die Fingerkuppen auf und hinterließen rote Spuren am Wall. Allerdings schien dies die Scratcher überhaupt nicht zu kümmern. Es kam Chris so vor als verspürten sie gar keine Schmerzen mehr, als wäre das Schmerzempfinden völlig verschwunden, vielleicht nahmen sie es in ihrem Irrsinn gar nicht mehr wahr.

Die Fünf Elementare - Das Erwachen [Band 1 der Elementary-Trilogy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt