der Boden unter den Füßen fehlt

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Alexander

Die Stunde Acht am Abend, war die Besinnung, welche uns zeigte, das kein Tag für immer wehrte. Sie war die Annäherung zu der Nacht und vielleicht auch die Verlassene Stunde vom Tag. Immer wieder schlossen sich meine Augen, nur um den Ausdruck von Hilflosigkeit in Magnus Gesicht zu sehen. Er ist geflüchtet, in das Schlafzimmer, direkt als wir hier ankamen. Die geschlossene Tür, welche sonst immer nur angelehnt war, zeigte mir das er jetzt die Zeit für sich brauchte. Ich akzeptierte es und doch war da diese Stimme in mir, welche mir zuflüsterte, ob ich denn jetzt wirklich allein sein möchte? Brauchte ich gerade diese nieder schmetternde Ruhe und die Fragen in meinem Kopf, welche stetig und ständig mehr wurden? War es für mich gerade überfordernd und wusste ich, was ich jetzt tun sollte?

Ich saß in dem Sessel, die Beine überschlagen, mit meinem Ehering spielend während mein Mann im Schlafzimmer allein war. Wir trieben uns gerade selbst näher an das scharfe Messer, waren die Gedanken ein Strudel in den wir hinein gezogen wurden. Was passierte mit uns? Jetzt und morgen? Durfte ich auf eine Verbesserung hoffen? Konnte mir das Leben nicht noch etwas Zeit geben, mich auf das was da kam, vorzubereiten? Ich war nicht bereit unseren ganzen Alltag aufzugeben. Doch welches Leben würden wir in einer Woche führen? Würde mich die Sorge irgendwann umbringen?

Vor Erschöpfung und des plötzlich auftretenden Schwindels schloss ich meine Augen wieder. Ich lauschte den Geräuschen des Hauses und dem Klang der Müdigkeit, der mich in einen Schlaf bestehend aus Ruhelosigkeit wiegte. Nicht wissend, das der folgende Tag so viel anrichtete. Wäre das gestern nur heute geblieben...

Als ich aus dem Schlaf gerissen wurde, lebte gerade die Stunde vier in der Nacht. Das klappern des Geschirrs war für mich nicht schwer zu überhören. Zumindest mit den Hörgeräten. Mags hatte bestimmt nicht geschlafen und war jetzt wieder die Unruhe auf zwei Beinen. Die Erschöpfung legte sich in Form von Schmerz über meine Hüfte und mittlerweile auch das Knie. Ich biss die Zähne zusammen. Mit dem Gehstock schlich ich durch das Haus und fand meinen Ehemann in der Küche wieder. Er deckte den Tisch mit der größten Sorgfalt.

"Kann man helfen?" Erschrocken drehte er sich um. "Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken." Langsam ging ich auf ihn zu. "Es ist alles in Ordnung, ich war sowieso schon wach." Der seichte Schlaf ließ es zu, das mich das kleinste Geräusch weckte. Diese Notlüge war seine Beruhigung. "Ich dachte, ich decke schon mal den Tisch für das Mittag." Ich hielt mich davon ab, de Stirn zu runzeln. "Erstmal wollte ich mit dir Frühstücken." Magnus nickte. "Genau das auch noch."

Zart küsste ich seine Schläfe, übte etwas mehr Druck aus. Der Geruch von zu Hause stieg in meine Augen. Unweigerlich trieb es mir die Tränen in die Augen. Mittlerweile prangten die Warnsignale bei jeder kleinsten unscheinbarsten Sache, die Magnus durcheinander oder anders machte. Ich konnte es nicht mehr ignorieren. Es war so präsent für mich. Ich sah den Wald unter den ganzen Bäumen und dennoch wünschte ich mir einen Moment, die Augen davor verschließen zu können.

"Soll ich weiter machen? Da kannst du dich schon mal für den Tag fertig machen." Ich strich über die feinen Bartstoppeln, die sich mittlerweile gebildet hatten. Er mochte es nicht wirklich, nur manchmal liebte er es, wenn ich einen drei Tage Bart trug. "Das ist lieb." Magnus löste sich mit einem kurzen streifen meiner Hand von mir. Er ging zum Kühlschrank und holte die Sprühschlagsahne heraus.

Mit einem Lächeln sah ich ihn an. "Ein Nachtsnack? Hoffentlich isst du dann noch was zum Frühstück." Es wäre typisch für ihn. Schon als wir unsere Jungs noch klein waren und die Nachtschichten immer mehr wurden, liebte er es den Kühlschrank zu plündern. Dabei liebte er Schokolade mehr als Gummibärchen.

Fragend sah mich mein Ehemann an und ich spürte bereits eine weitere Welle, die über uns herein brechen würde. Ich sah deutlich die Veränderung in seinen Augen. "Was meinst du?" Mit meinen Kopf deutete ich auf die Flasche. Er sah auf seine Hände. "Oh nein, ich möchte mich nur rasieren gehen." Mein Lächeln erstarb, wurde von dem Durcheinander in Magnus Kopf nieder geschmettert. Der Erdboden unter meinen Füßen schien sich allmählich aufzulösen und die Erkenntnis, das sich die Wolken in seinem Kopf zu zogen, wurde immer größer. Es war nur eine Vermutung, die ich immer in mein Unterbewusstsein verbannt hatte. Eine Vermutung, die jetzt wahrscheinlich Realität wurde.

"Weißt du, ich wollte mich auch rasieren gehen. Das können wir gleich zusammen machen." Seine Stirn runzelte sich. Dann sah er wieder auf die Flasche. Er drehte sie in seinen Händen. Das seltene Funkeln in seinen Augen kam wieder. Ich schloss die Augen, konnte die Erschütterung in seinem Blick über sein eigenes Handeln nicht mit ansehen. "Was wollte ich mit der Schlagsahne?" Sein Blick lag spürbar auf mir. Doch ich wollte diese Situation gerade selbst nicht wahr haben. "Alexander?"

Mein Verstand zwang mich ihn anzusehen. Aus Tränen verschleierten Augen sah er mich an. Es war ein anderer Kontakt unserer Blicke. Immer wieder wendete ich mich ab, betrachtete den Fußboden statt ihn. Die Tür des Badezimmers fiel in ihren Rahmen zurück. Ich hielt mich an dem Küchentresen fest und versuchte das zu verstehen, was unser Leben wahrscheinlich ab jetzt jeden Tag, jede Stunde und vielleicht auch jede Minute prägen würde.

Ich brauchte ein paar Minuten um zu verstehen, das ich jetzt für meinen Ehemann da sein musste. Wie schlimm war es gerade für ihn? Ich will es mir gar nicht vorstellen. So schnell es in meinem Alter nunmal ging, lief ich zu unserem Bad. Verstärkt lief die Liebe durch meine Vene. Wir mussten jetzt zusammen halten.

"Mags?" Ich klopfte bevor ich das Bad betrat an. Auf eine Antwort wartete ich allerdings nicht. Magnus stand mit glasigen Blick vor dem Spiegel, betrachtete sich selbst und versuchte wahrscheinlich irgendwelche Veränderungen an sich auszumachen. Doch bis auf die Müdigkeit, gab es nicht, was darauf deutete, das irgendetwas anders war. Nur ich, als der Mann der ihn jetzt schon seit über fünfundsechzig Jahren liebte, sah es in seinen Augen.

"Mit jedem Atemzug, den ich ausatme scheint mein Kopf etwas auszustoßen. Ein bisschen mehr Klarheit geht immer weiter verloren.. Ich wollte mich gerade mit Schlagsahne rasieren." Seine Stimme war monotonlos. Keine einzige Emotion entglitt ihm. Ich stellte mich neben ihm. Durch den Spiegel sah ich ihn an. "Ich liebe dich" flüsterte ich leise. Gerade jetzt wollte ich ihn daran erinnern, das sich daran nichts ändern würde. "Ich dich auch, Alexander."

Mein Arm legte sich um seine Hüfte, sein Kopf lehnte er stumm an meine Schulter. Ich küsste seine Haarpracht, schloss wieder einmal die Augen und verhinderte das die Tränen zum Vorschein kamen. Ein Arztbesuch erschien mir jetzt unvermeidlich. "Kann das unser Geheimnis sein?" Es entstand ein schiefes Lächeln auf meinen Lippen. Es war geprägt reiner Traurigkeit. Ich schaffte es nur zu nicken. Meine Wangen wurden von seinen Haaren gestreichelt. Jedes Wort würde der Ausbruch von Kugeln voller Tränen bedeuten.

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