Kreisverkehr

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Alexander

Meine Augenlider sind gesenkt und dennoch spüre ich jedes einzelne Augenpaar auf uns. Der vertraute Körper an meiner Brust, er bebt unaufhörlich. Erstickte Schluchzer finden ihren Weg direkt in mein Herz, fressen sich hinein und hinterlassen eine irreversible Wunde. Sie schmerzt, stumpf und erdrückend, kann durch nichts betäubt werden. Irgendwann wird sie sich entzünden und so brennen, wie der Teufel in der Hölle.

Magnus hat schon oft in meinen Armen geweint. Aber das war nichts im Vergleich zu jetzt. Er wirkte vollkommen anders. Fast schon aufgelöst. So zerbrechlich, instabil. Sein Griff um mich herum wurde stärker. Er war das Korsett, welches mir die Luft zum atmen stahl, so fest war die Umarmung. Die heißen Tränen sickerten durch mein Hemd, hindurch auf meine Haut. Ich konnte nichts weiter tun als ihn einfach zu halten. Mir erschien die Anwesenheit meiner Familie noch nie so unpassend. Selten hatte ich mich so gefühlt, wäre ich doch genau jetzt liebend gern mit Magnus allein. Gern, würde ich ihn vor den Blicken der anderen schützen. Aber es ging nicht.

Ich suchte nach den richtigen Worten, sie blieben mir fern. Wenn ich jetzt sprach, würden die Perlen meine Wangen streicheln. Ist es nicht so, das auf Hochzeiten gerne eine Träne kullern durfte? Gern hätte ich darauf verzichtet. Doch es musste so kommen. Magnus spürte das er vergaß und genau jetzt wurde ihm dieses Ausmaß deutlich. Genau wie die Erkenntnis, wie die heißen Tränen in mein Kopf sickerte, das wir beide schon längst nicht mehr vor dem Abgrund fliehen konnten. Wir flogen bereits, es war ein Parabelflug des Scheiterns.

"Papa?" Tief atmete ich durch bevor ich den Blick zu meinen Kindern riskierte. Sofort sogen mich ihre Emotionen in einen Strudel. Unterschiedlicher konnten sie nicht sein. Da war ganz viel Verwirrung und gleichzeitig Verständnis bei Rafael. Während mir die Augen von meinem Jüngsten ein Stück von Enttäuschung und zeitgleich Wut, Trauer und Unklarheit zeigten.

Wie oft im Leben sah man seine Kinder weinen und wie oft nahm man sie in den Arm, um sie zu trösten. Die Bemühungen ihnen das schönste Leben zu ermöglichen, welches sie verdient hatten. Magnus und ich waren immer offen, nur jetzt schienen wir daran zu scheitern. Wollte vor allem mein Ehemann nie gebrechlich vor unseren Kindern wirken. Nur die Gefühle der letzten Tage und Wochen hatten sich gestaut, es war an der Zeit sie heraus zu lassen. Schonungslos.

"Ich.. wir reden zu Hause. In Ordnung?" Max und Rafael sahen sich einen Moment an. Unsere Schwiegertöchter schienen sofort zu verstehen. Rosalie und Anni lächelten mir kurz zu, versuchten ihre eigenen Gefühle zu überspielen. Vor allem die Frau unseres jüngsten Sohnes, schien mit sich zu kämpfen. "Mags? Wollen wir nach Hause?" Ich bekam nur ein zögerndes nicken. Noch während ich ihn festhielt, räusperte ich mich. "Ihr entschuldigt uns bitte. Wir werden euch das alles in naher Zukunft erklären." Izzy und Jace warfen mir einen eindringlichen Blick zu. Sie waren für mich da. Dabei fühlte ich mich selbst mit ihrer Unterstützung so hilflos.

Unsere Enkelkinder wurden bereits von Simon und Clary von dieser ganzen Situation abgelenkt. Alle, nur Charlotte ließ sich nicht von uns abbringen. Sie sagte kein Wort, als ich zusammen mit Magnus etwas schwerfällig aufstand. Rafael und Max taten es uns gleich. Zu viert verließen wir das Restaurant. Manche Gäste sahen uns an, andere versuchten mit allen Mitteln genau das nicht zu tun. "Mr. Lightwood-Bane?" Die Stimme des Kellners hielt mich auf. "Die Getränke gehen aufs Haus. Und falls sie doch nochmal die Gemüselasagne probieren wollen, wir haben auch kleinere Räume." Dankend nickte ich ihm zu. Ich war berührt von der Freundlichkeit.

Magnus hatte sich, als wir im Auto saßen wieder etwas beruhigt. Nur noch vereinzelte Tränen suchten sich ihren Weg über seine Wange. Vorsichtig strich ich ihm diese Weg, was ihm ein schiefes Lächeln auf seine Lippen zauberte. Ich konnte es nur kurz erwidern. "Möchtest du dich zu Hause etwas hinlegen?" Wieder kam nur ein nicken. Rafael, welcher hinter dem Steuer saß, betrachtete mich kurz durch den Rückspiegel. Ich wand den Blick ab und sah auf die vorbei ziehende Stadt. Das ich selbst für dieses Gespräch nicht bereit war, schien niemanden bewusst zu sein.

Im Haus half ich Magnus sich von dem Hemd zu befreien. Er legte sich in das Bett und ich deckte ihn zu, küsste seine Schläfe und sog seinen Geruch welcher mein zu Hause bedeutete tief ein. Ich inhalierte ihn förmlich, sorgte dafür das sein Parfüm in den Wunden stocherte. Es brannte wie Desinfektionsmittel, kurz und immer weiter abklingend. Das Pochen blieb.

Im Wohnzimmer warteten bereits meine Kinder. Rafael saß in dem Sessel, während Max am Fenster stand. Seine Arme hatte er vor seinem Körper verschränkt. Nachdenklich sah er mir dabei zu, wie ich mich selbst setzte. Meine Knie zitterten zu stark. Es war nur ein Augenblick komplett ruhig. Ich nutzte und genoss sogleich diese Sekunde. Das Geschehene legte sich in mir ab. Alles zu verarbeiten schaffte ich nicht, waren die abwartenden Gesichter, welche auf eine Erklärung hofften, bereits die neue Hürde.

"Ihr müsst entschuldigen. Es war nicht richtig euch nichts zu sagen. Euer Vater und ich haben gemeinsam entschieden, euch vorerst nichts zu sagen. Wir wollten erstmal selbst alles verstehen." Ich erinnerte mich an dem Moment, wo Magnus mich bat, die Diagnose als Geheimnis zu bewahren. Es war sein Wunsch, ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht und somit war ich mit verantwortlich. Für alles. Ihm konnte man keine Schuld geben.

"Es ist Demenz, richtig?" Max brachte es auf den Punkt. Er hatte bereits Erfahrungen damit. Anni, seine Frau hatte bereits ihre Mutter an dieser Krankheit vor drei Jahren verloren. Meine Schwiegertochter kannte ihren Vater nicht, umso schmerzhafter war es damals für sie. Seitdem wurde das Verhältnis zu ihr, nur noch enger. Ich konnte nur nicken. "Und das wolltet ihr uns nicht sagen?" Seine Stimme war fest.

Ich fuhr mir über das Gesicht. Gerade würde ich auch einfach nur schlafen wollen. "Es gibt nichts, womit ich das erklären könnte. Eine Entscheidung in einem Moment. Sie scheint jetzt nicht die Richtige gewesen zu sein. Aber zu diesem Zeitpunkt haben wir diese nicht in Frage gestellt." Rafael blieb ruhig. Unterbewusst fing ich damit an mit meinen Ehering zu spielen. So wie ich es irgendwie immer tue.

"Seit wann wisst ihr es?" In meinen Kopf rechnete ich zu dem Tag beim Arzt zurück. Immer wieder brachte mich ein Gedanke aus der Rechnung. "Seit mehreren Wochen" war deswegen die schwammige Antwort. "Und wir erfahren erst jetzt durch ein missglücktes Essen davon?" Max war, auch wenn er dies ungern zugab, ein sehr gefühlvoller Mensch, welcher sich durch seine Emotionen lenken ließ. Rafael hingegen, war eher der rationale. Er dachte nach und sprach erst dann, über das was gerade in ihm vorging.

"Wann hättet ihr es uns erzählt? Dann wenn er uns nicht mehr erkannt hätte? Oder vielleicht doch schon vorher? Glaubt ihr nicht, das wir uns vorher gerne darauf vorbereiten würden, das unser eigene Vater vielleicht seine Kinder vergisst?" Unmerklich schüttelte ich den Kopf. "Man kann sich darauf nicht vorbereiten, Max." Er schnaubte. Ich sah seine Wut.

"Papa wird mich höchstwahrscheinlich vergessen." Seine Stimme war laut. Sie zitterte vor Angst und auch bei ihm sammelten sich die Tränen. Mit meinem Gehstock erhob ich mich von dem Sofa. Ein Anflug von Schwindel überkam mich. Die Hüfte schmerzte. Dennoch zählte gerade nur mein Sohn.

Verbissen presste er seine Kiefer aufeinander. Er war vielleicht gar nicht so sauer auf Magnus und mich, sondern auf dieses Leben und vielleicht auch auf diese Krankheit. Sie griff seinen Dad an. "Komm her." Ich öffnete meine Arme, bockig wie er war schüttelte er den Kopf. Erst als ich ihn in diese zog, gab er vollends nach. Es war eine väterliche Umarmung, die man seinen Kindern bei jedem Kummer schenkte und auch jetzt hielt ich meinen Jüngsten ganz fest. "Wir schaffen das."

Meine Augen wanderten zu Rafael, der uns mit einem Schimmer betrachtete. Ich deutete ihn an ebenfalls her zu kommen und so erhob er sich. Auch ihn schloss ich in diese Umarmung. "Unsere Jungs, wir werden euch immer im Herzen tragen. Auch Dad. Er wird euch nie ganz vergessen."

In diesem Augenblick betäubte mich die Liebe zu meinen Kindern und ich vergaß, meine eigene Schmerzen. Magnus und sie zählten.

Der WegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt