Schlucht

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Alexander

Die Stunde fünf am morgen lebt, als ich mit einem leisen Klick den Schlüssel zu unserem Vorratsraum zuschließe. Kraftlos lasse ich ihn in meine Hosentasche plumpsen. Ich bemerke ihn nur kaum. Ist das Gewicht kaum zu vergleichen mit dem was auf meiner Schultern lastet. Der Schock, das Magnus selbst in den ein paar Sekunden Abwesenheit fast Spülmittel getrunken hätte, saß noch immer fest in mir drin.

Dann war da aber wieder dieser Kuss, welcher mich an die früheren alten Zeiten erinnert hat. Er war so besinnlich, bedacht, eine Geste an die ich mich fest klammern konnte. Seitdem schlief Magnus, ich hatte immer mal wieder nach ihm geschaut. Sein Kopf ruhte auf meinem Kopfkissen. Eine Angewohnheit die er hoffentlich nie ablegte. Traurigkeit legte sich über mein Gesicht. Ich spürte es deutlich. Es war wie Botox, das alle Gesichtszüge veränderte.

Während mein Liebster schlief, hatte ich alle gefährlichen oder giftigen Dinge in den Abstellraum gebracht. Es sollte nicht an mir scheitern. Humpelnd und immer mehr auf dem Gehstock lehnend, ging ich in das Wohnzimmer. Erschöpft ließ ich mich eher schlecht als recht auf den Sessel sinken. Somit hatte ich den perfekten Blick auf die Wand, welche einzelne Momente unseres Lebens zeigte.

Meist lachten wir fröhlich in die Kamera, zogen Fratzen und strahlten pure Lebensfreude aus. All das versuchte ich tagtäglich zu bewahren. Magnus immer wieder schöne Tage schenken und ihm nicht anmerken lassen, das es manchmal einfach weh tat. Er konnte mich mittlerweile so leicht verletzen. So leicht, wie man einen Stein in das Wasser warf. Nur fragte sich jemand wie tief der Stein sank? Ich wusste das er nichts davon absichtlich tat, aber der Schmerz war trotzdem da. Gott vermisste ich den Kavalier so sehr.

Etwas nasses tropfte auf meine gefalteten Hände, die in meinem Schoß ruhten. Zitternd hob ich sie zu meinem Gesicht. Kugeln aus Tränen verließen ungehindert meine Augen. Ich sollte nicht weinen, nicht jetzt, nicht heute. War mein Maß der Gefühle wirklich schon so voll? Gerade als ich den Gedanken fasste, gegen diese Sprache von meinem Körper anzukämpfen, spürte ich das es gar nicht ging. Kraft war dafür nicht mehr übrig und in diesem Augenblick war die Hilflosigkeit, die Schwäche, die Angst vor dem was noch kommt, so groß.

Erstickte Schluchzer entflohen, ließen mein ganzes Da sein erzittern. Ich schnappte nach Luft, war das Gefühl nicht mehr Atmen zu können, so präsent. Ich weinte in meine Hände und alles, was ich bisher unter Kontrolle hatte, kam mit heraus. Ich erbrach förmlich Wasserperlen, schien es kein Ende mehr zu geben.

Die Dunkelheit in der ich mich befand, trug nicht zu meinem Zustand bei. Verloren wandelte ich auf dieser Welt umher, versuchte das Feuer der Leidenschaft zum Leben immer wieder neu zu entfachen, war es doch Magnus und mein Ursprung. Aber gerade in diesem Augenblick, blieb nur die kalte Asche zurück.

Ich konnte mich selbst nicht beruhigen, war alles so viel mächtiger als ich es je sein konnte. Gedanken wogen nichts und trotzdem brach ich unter ihrer Last zusammen. Genau so wie die Gefühle, die sich mit dem gegensätzlichsten zusammen taten. Es war ein Zwiespalt, ein auf und ab, etwas sprunghaftes, was ich in meinem Alter einfach nicht mehr konnte.

Die Hüfte schmerzte, das Knie fing ebenfalls an und das gehen fiel mir schwerer. Aber das schien gerade meine kleinste Bürde zu sein, die ich da trug. Schon lange lief ich nicht mehr auf zwei Beinen, es erinnerte eher an ein erbarmungsloses kriechen. Dabei hatte ich mittlerweile gar keine Angst mehr das er mich vergaß. Schließlich wusste ich immer wer er war und ist.

Nein, die Angst beruhte eher auf den Lauf des Lebens. Auf das, was unvermeidlich war. Das Leben würde ihn mir weg nehmen. Vielleicht noch wenn ich auf der Welt verweilte. Und ich wusste nicht, wie ich diesen Verlust, jemals überleben sollte. Qualvoll flüsterte ich ein "Nein..", war es so erstickt. Das Kissen aus Schmerz drückte mir alles ab. "Nein, nein, nein." Meine Hand fuhr durch mein Haar, raufte sich fest. Nichts gab mir gerade halt. Ich fühlte mich so allein.

"Alexander?" Magnus Stimme erklang deutlich in meinen Ohren. Schnell versuchte ich mein von Wasserperlen benetztes Gesicht, zu trocknen. Noch immer zitterte ich. Aber er sollte mich nicht so sehen. Würde es ihn eventuell verwirren. Ich räusperte mich. "Ja?"

Meine Augen erblickten seine Silhouette, die vom Mond angestrahlt wurde. Nur dieser Planet, wusste die dunkelsten Geheimnisse. War er es vielleicht, der die meisten Menschen weinen sah. Denn die Gefühle tagsüber zu überspielen, war eine Fähigkeit die viele beherrschten.

"Ich hatte einen Alptraum." Auch er schien mit den Tränen zu kämpfen. Ich musste für ihn da sein. "Komm her, Mags." Ich hörte das schalten des Lichtes. Es strahlte mir entgegen, wie ein Rampenlicht. War ich gerade das Objekt, welches das ganze Stück versaute. Voller Sorge sah er mich an.

"Hattest du auch einen Alptraum? Lagst du deswegen nicht neben mir?" Er trieb mir ein kleines Lächeln in das Gesicht. Erinnerte mich das gerade zu sehr an Max und Rafael. "Richtig, entschuldige bitte. Ich wollte dich nur nicht wecken." Ich streckte meine Hand nach ihm aus. Wie sollte ich ihm erklären, das die Tränen kamen, weil ich alles zu lange aufgestaut hatte. Das sie Angst behielten und sogleich eine unendliche Leere. Er würde es vielleicht nicht mehr verstehen. Erinnerte mich mein Zustand auch an einen Alptraum, der schon lange Realität war.

Magnus ließ sich sanft auf meinen Schoß nieder. War es etwas, was wir schon lange nicht mehr gemacht hatten. Ich spürte das kurze stechen in meiner Hüfte, war es das einzige was ich problemlos weg blinzeln konnte. Er lehnte sich an mich, umschlang meinen Hals mit seinen Armen. Und auch ich hielt ihn ganz fest, inhalierte seinen Duft.

Er war hier, bei mir, ganz nah, ganz fest. Ich musste diesen Augenblick schätzen. Durfte ich nicht daran denken, das der einzige Mensch, der mich ohne eine Lücke kannte, wahrscheinlich nicht mehr trösten konnte, zumindest nicht so wie früher. Umso mehr schätzte ich das hier. Wir stützten uns gegenseitig und versuchten dem anderen, einfach mit der Nähe zu helfen.

"Was hast du denn geträumt?" Meine Stimme war nur ein flüstern. Das Weinen hatte mich unendlich müde gemacht, könnte ich genau jetzt einfach einschlafen. "Du bist aus der Tür heraus gegangen, hast sie geschlossen und bist nie wieder gekommen. Das wollte ich nicht. Ich will nicht, das das passiert." Ich zog ihn nur noch fester. "Es wird auch nicht passieren. Ich werde immer bei dir sein." Kurz tippte ich auf seine Brust. Dort wo das schlagende Phänomen seine tägliche Aufgabe tat und damit so schnell hoffentlich nicht aufhörte. "Da drin. Du wirst mich nicht mehr los."

Magnus sah mir in meine Augen, ganz tief bis zu meinem Meeresgrund. "Abgemacht?" Tränen der größten Berührung schossen in mir hoch. Sammelten sich vor meiner Linse. "Abgemacht." War es das Wort, was wir von Anfang an schon immer benutzten, wenn es uns ganz ernst war. Er erinnerte sich daran.

Der WegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt