gerade aus

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Alexander

Meine Augen glitten durch das Restaurant, suchten nichts bestimmtes, nur einen Ort wo sie hinschauen konnten. Diese Abwehr in mir, niemanden in die Augen schauen zu wollen war groß. Die Sorge, das mir irgendjemand diese Sorge ansah und ich dadurch das Geheimnis nicht bewahren konnte war groß. Umso mehr Menschen ich erblickte, desto größer spürte ich die Erschöpfung. Die Nacht war alles andere als erholsam. Die Gedanken formten sich zu einem unermüdlichen Kreisel. Ein Kreisel der sich drehte, ich sah ihm dabei zu, atmete flach und ganz autonom.

Ich kam bei Magnus an, mein Blick ruhte stumm auf ihn. Von der Seite betrachtete ich sein Grinsen und die Sorglosigkeit. Die Falten, die durch Lachen geprägt wurden traten hervor, machten dieses Bild noch Freudvoller. Ich sah dabei zu, wie sich sein Mund bewegte und er etwas erzählte. Nur seine Worte erreichten meine Ohren nicht. Die Welt war so leise in diesem Augenblick. Als hätte ich die Hörgeräte zu Hause liegen lassen. Ich war da und dennoch wo ganz anders. War es nicht Magnus, für den dieser Tag vielleicht zu fordernd war. Es war ich, der am Rande des Wahnsinns diese eine lockere Stelle übersah. Nur der Stein, welchen ich los treten würde, sollte wissen, das er mich nicht halten konnte. Meine Sicht verschwamm bereits. Ich ließ zu das die Welt keine Formen und Farben hatte, sondern alles eins wurde. Mit mir und den Tränen der Stille.

Doch Charlotte griff nach meiner Hand, veranlasste das meine Augenlider sich schnell auf und ab bewegten, um die Wasserperlen weg zu blinzeln. Der Stoff ihres Kleides war fein und angenehm. Ich spürte kleine Berührungen unter meinen Fingerspitzen. So musste sich ein Wunder anfühlen. Hautnah. Pur, vollkommen echt. "Der kleine Mann wird immer aktiver" gestand sie mir. "Mittlerweile freue ich mich richtig." Sie ließ meine Hand los, gab mir diesen Moment um noch einmal meinen kleinen Urenkel zu spüren. "Hast du dir schon einen Namen überlegt?" Ich sah dabei zu, wie sie ihren Kopf schüttelte. Dabei umspielten die dunklen welligen Haare, ihren Hals. Charlie sah heute besonders hübsch aus. Ihr stand die Schwangerschaft.

Der Kellner riss mich aus dieser kleinen Blase, ohne jegliche Krankheiten oder Bedenken. Ich trat den Schritt vom Abgrund weg, stand wieder für eine kurze Verweildauer wieder auf festen sicheren Boden. Die Gläser wurden mit dem gewünschten Getränk gefüllt. Das Wasser mit Kohlensäure, sprenkelte kurz, verdeutlichte vielleicht somit die Freude endlich getrunken zu werden.

Ob es sich über sein eigenes Schicksal bewusst war? Wollte es nicht lieber vor sich her schwimmen? Wusste die Kohlensäure, das sie nicht beständig war? Würde sie gerne länger bleiben? Liebte sie das Wasser? Und ließ das Wasser sie gerne gehen?

Jeder bekam eine Speisekarte. Auch Magnus, der sie dankend entgegen nahm. Es ist der Lauf der Dinge, den ich wieder erblicken kann. Es ist nur eine Kleinigkeit, die nur mit auf fällt. Gern würde ich diese Wenigkeit ignorieren, ihr nicht mal Beachtung schenken. Aber die letzten siebenundsechzig Jahre war es immer anders. Mein Ehemann hatte seit unserem dritten Date keine Karte mehr in die Hand genommen, konnte er sich doch nie entscheiden. Er hatte sie dankend abgelebt. Anders ist es jetzt, zu unserer eisernen Hochzeit.

Magnus lächelte mich an, hatte er meinen Blick gespürt. Mit der Kraft des puren Willens, lächelte ich ihn ebenfalls an. Ich sollte mich nur auf ihn konzentrieren und nicht auf unsere Umstände. Der Tag zählte und vielleicht würde genau dieser heute besonders schön werden.

Noch während wir in die Karten schauten, gab es als Vorspeise eine kleine Suppe. Der Geruch umspielte meine Nase. "Unglaublich das schon so viele Jahre vergangen sind, seitdem ihr uns bei einem einfachen Treffen erzählt habt, das ihr vermählt seid." Izzy lächelte mich an, nur alle anderen konzentrierten sich auf Magnus.

Dieser versuchte gerade mit einer Gabel die Suppe zu verspeisen. "Das hat Max früher auch immer gemacht. Wie dickköpfig du warst, als wir dir immer wieder erzählt haben das es mit einem Löffel besser funktioniert." Rafael' Worte erscheinen mir wieder so weit weg, so stumpf. "Danke Bruderherz und danke Dad, das wir uns genau jetzt daran erinnern müssen." Max klang ebenfalls belustigt. Ich sah meinen Mann an, dieser war so konzentriert. Es war nur ein kurzer Anflug von Wut, welche ich auf meine Kinder verspürte. Mags machte das ganz sicherlich nicht, um irgendjemanden auf die Schippe zu nehmen.

Mein Herz erinnerte mich daran, das sie es gar nicht wissen konnten. Für sie war Magnus immer noch der Vater, welche immer Spaß machte und versuchte seine Kinder die Ernsthaftigkeit des Lebens für einen Augenblick vergessen zu lassen. Nur kurz senkte ich meine Augenlider. Ich musste in dem Hier und Jetzt wieder angelangen. Meine Konzentration durfte jetzt nicht schwach werden.

Ich bekam mit das alle wieder sich angeregt unterhielten. Sanft legte ich meine Hand über die von Magnus. Stoppte dessen vorhaben die Suppe weiter mit der Gabel zu essen. Unmerklich nur für ihn schüttelte ich leicht den Kopf. "Probier mal den Löffel. Das klappt bestimmt besser." Das seine Augen meine eignen nicht erreichten, machte seine Lage gerade mehr als deutlich. Er ließ das Besteck los und suchte statt dem Löffel meine Hand. Wie bei der Geburtstagsfeier klammerte er sich in diese. Hilfesuchend ließ er mich keine Sekunde mehr aus den Augen. Er war blass und die Überforderung stand ihm in das Gesicht geschrieben.

"Haben Sie schon ihre Wahl getroffen?" Der Kellner war freundlich. Mit kleinen Kommentaren lockerte er seine Uniform etwas auf. "Müssen wir schon wieder wählen gehen?" Magnus blickte mir immer noch in die Augen. Den Kellner, der neben ihm stand, schien er gar nicht wahr zu nehmen. Seine Frage war nur ein flüstern. Und wieder schüttelte ich unmerklich den Kopf. Jeder nannte das von ihm auserwählte Gericht, der Mann schrieb fleißig mit. Solange bis er bei uns an kam.

"Und der Herr?" Dabei sah er auf Magnus herab. "Welcher Herr?" fragte dieser sichtlich verwirrt. Die Hand die ich hielt wurde kaltschweißig, vermutlich würde sie ohne den Halt anfangen zu zittern. Bis jetzt hatte ich meinen Mann noch nie so verloren gesehen. Er fühlte sich sichtlich fehl am platze. Vollkommen still saß er auf seinen Stuhl. Vermutlich wusste er nicht mal mehr was wir hier wollten.

"Was möchtest du essen, Liebling?" Meine andere Hand deutete auf die Karte, die vor ihm lag. Jegliche Aufmerksamkeit dieses Tisches lag auf uns und ganz speziell auf Magnus. Ohne sich wirklich die Gerichte durchzulesen, deutete er auf die geschriebenen Worte. "Ah die gefüllte Paprika. Eine Spezialität des Hauses." Ich hielt den Atem an, wartete nur auf die Worte, die nicht lang auf sich warten ließen. "Seit wann ist du Paprika, Dad?"

Mir wurde schlecht und mit eigenem schmerz sah ich dabei zu, wie sich Magnus Augen immer mehr mit Tränen füllten. "Ich weiß es nicht." Geduldig stand der Kellner neben uns. Mit Trauer gefüllten Augen trafen sich unsere Blicke. Ich ertrug sie nicht. Ich ertrug gerade gar nichts mehr. "Was esse ich denn gerne?" Die Kugeln in Form von Tränen entrannen seine Augen, hinterließen eine feuchte Spur auf seiner Haut. Der Schmerz, er schrie.

"Du isst gerne Gemüselasagne." Es war nichts als ein daher stammeln von Charlie. Ich konnte sie nicht ansehen. Die Erkenntnis wäre die nächste Ohrfeige. Der Kellner nickte stumm. "Magnus?" Sein ausgesprochener Name aus meinem Mund gab ihm endgültig den Rest. Bitterlich weinte er. Ich zog ihn in meine Arme, streichelte beruhigend über seinen Rücken und kämpfte sogleich um meine eigene Verfassung.

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