55. Kapitel

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Aimee kontrollierte ein weiteres Mal die Verriegelungen an der Tür, bevor sie den Stuhl vom Esstisch unter die Klinke stellte. In ihrer aktuellen Situation konnte sie nicht vorsichtig genug sein. Sie trat an das Fenster, sah prüfend auf die Straße hinab und atmete tief durch. Dieser Fall raubte ihr die Nerven. Sie hatte die Nase voll von Conner, der Flucht vor den Behörden und ihrem durchgeknallten Ex. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so noch durchhalten würde?

Seufzend ließ sie sich auf ihren Schlafsack fallen und starrte an die Decke. Wie lange würde sie sich vor der Polizei noch verstecken müssen? Und wo war Parker? Wieso war er auf einmal verschwunden? Das ergab alles einfach keinen Sinn.

Aimee verstand die Welt nicht mehr. Seit sie verhaftet wurde, stand alles Kopf. Ihr Ex-Verlobter versuchte ihr Leben zu zerstören, indem er ihr seine Bankraube anhängte. Der Mann, mit dem sie den besten Sex ihres Lebens hatte, sah in ihr nichts weiter als einen weiteren kurzen Rock. Und alle Welt hielt sie für eine Kriminelle. Wie hatte ihr Leben nur so außer Kontrolle geraten können?

Ihr Handy vibrierte und Aimee atmete erleichtert auf. „Nadja?"

„Dein Video ist hier eingeschlagen wie eine Bombe. Hat Parker wirklich die beiden Spanier ermordet?" Ihre Freundin klang fassungslos. „Es war sonst niemand zum Todeszeitpunkt in dem Krankenhauszimmer. Er muss sie umgebracht haben."

„Wie hat das niemand von der Behörde bemerken können?"

„Als Todesursache hat man Herzstillstand angeben. Er hat es nach einem natürlichen Tod aussehen lassen."

Ihre Freundin seufzte. „Findet es denn niemand fragwürdig, dass zwei junge, gesunde Männer am selben Tag um die selbe Zeit an Herzversagen sterben?" Aimee zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hatte Parker noch Kontakte im Krankenhaus, die ihm geholfen haben, dass Ganze zu verschleiern."

„Das kann sein", entgegnete Nadja und machte eine Pause. „Was hast du als Nächstes vor, Aimee?"

Aimee setzte sich auf und fuhr sich mit den Händen durch das blonde Haar. „Ist Parker mittlerweile aufgetaucht?"

„Nein. Aber es wird verstärkt nach ihm gesucht. Was wirst du machen?"

„Ich werde mich weiter verstecken."

„Es ist sicherlich bald vorbei." Aimee nickte hoffnungsvoll, auch wenn sie es bezweifelte. Was auch immer hier grade lief, wenn Parker mit drin stickte, war es keine kleine Sache und würde nicht ohne eine Katastrophe enden. So war Parker nicht. „Aimee?"

„Ich werde heute noch an meinem Erscheinungsbild arbeiten."

Nadja zog erschrocken die Luft ein. „Sag mir bitte nicht, dass du die Haare färben lassen willst?" Aimee schwieg. Das war Nadja Antwort genug. „Deine Haare sind wunderschön. Das kannst du nicht machen, Aimee."

„Perücken sind zu unnatürlich. Es muss echt aussehen. Ich habe keine andere Wahl."

Nadja gab protestierende Laute von sich. „Es handelt es sich lediglich um ein paar weitere Tage, Aimee. Du musst dich nicht für immer verstecken."

„Das kann niemand so genau sagen, Nadja.
Ich tue, was meiner Meinung nach am besten und für mich am sichersten ist."

Sie seufzte resignierend. „Ich halte das trotzdem für eine schlechte Idee."

„Es geht nicht anders." Eine weitere Pause entstand und nutzte den Moment, um die nächsten Worte zu sammeln. „Du musst mir bei einer anderen Sache helfen, Nadja."

„Natürlich. Brauchst du Geld?" Sie schüttelte den Kopf. Nein, Geld brauchte sie nicht. „Ich brauche die Adresse eines Hehlers."

„Eines Hehlers? Was hast du vor?"

„Ich muss mich verteidigen können und brauche eine Waffe. Parker läuft sicherlich nicht ohne rum. Eine schusssichere Weste wäre bestimmt auch nicht schlecht." Aimee sah ihre Freundin förmlich vor sich, wie sie mit kreidebleichen Gesicht den Kopf schüttelte. „Bevor du ein zu hohes Risiko eingehst, komm lieber zurück."

„Ich bin muss auf Nummer sicher gehen, Nadja. Bitte." Nadja schwieg und Aimee befürchtete ihre Freundin würde auflegen, als sie resignierend seufzte. „Ein Hehler also. Ich werde die eine Adresse zukommen lassen. Unter einer Bedingung."

„Was denn?"

„Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst. Wir brauchen dich noch." Aimee atmete tief durch. „Ich habe noch vor für Parker zu sterben. Keine Sorge, und danke, Nadja."

„Dank mir erst, wenn du mit deinen vier Buchstaben wieder in unserem Wohnzimmer auf dem Sofa sitzt."

„Ich gebe mir größte Mühe." Ihr Blick wanderte zu ihrer Armbanduhr, die sie für zehn Dollar einem Afro-Amerikaner abgekauft hatte. Es war Viertel nach vier. Sie musste sich gleich auf den Weg zu dem Friseurstudio zwei Straßen weiter machen und anschließend noch ihr Abendessen beschaffen. „Ich muss gleich los. Nadja. Gibt es sonst noch irgendetwas?"

Ihre Freundin zögerte. „Was ist es, Nadja?"

„Ich habe vor einer Viertelstunde Conner gesehen." Ihr Herz zog sich zusammen und Tränen stiegen ihr in die Augen. Unwillkürlich musste sie daran denken, was er ihr zum
Schluss an den Kopf geknallt hatte. Eine weitere Kerbe in seinem Bettpfosten. So gut war es gar nicht. Alles verdient, was dir jetzt passiert. Sie kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an. „Was ist mit ihm?"

„Vielleicht beruhigt dich das etwas, aber er sieht aus, als hätte er die letzten Tage nicht einmal geschlafen und seinen Rasierer verloren. Er sollte auch leiden", sagte Nadja und Aimee presste die Lippen fest aufeinander.  Sie war eine solche Idiotin. Selbst jetzt nachdem er sie wie einen Fußabtreter behandelt hatte, empfand sie Mitgefühl für ihn. Sie war eine solche Närrin, wenn sie selbst jetzt noch hoffte, er würde seinen Fehler bemerken
und machen, was er ihr versprochen hatte. Doch das würde nicht passieren. Sie war ganz auf sich allein gestellt. Aimee schalt sich selbst, zwang sich aufzustehen und stopfte ihre wenigen Habseligkeiten in die Taschen ihrer Jacke. „Ich muss jetzt auflegen, Nadja. Bis dann."

Sie beendete den Anruf, legte das Handy auf das Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ihre Gedanken kreisten noch immer um Conner und alles begann zu schmerzen. „Hör auf damit, Aimee. Er wird nicht kommen. Du .. du bist es ihm nicht wert." Die Wahrheit war verdammt schmerzhaft.

Gequält schloss sie die Augen, holte tief Luft und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Hand stieß gegen das Handy und mit einem lauten Platsch landete es im Spülbecken. Fluchend stellte Aimee den Wasserhahn ab, hob das Handy hoch und atmete laut aus, als Wasser aus dem Gerät tropfte. „Das war es dann wohl mit dem Handy." Enttäuscht warf Aimee das Handy in den Mülleimer neben der Spüle, zog den Stuhl von der Türklinke und verließ dann die Wohnung. Vor dem heruntergekommenen Holzhaus mit den quietschenden Holzdielen blieb sie stehen. Die Farbe blätterte von den Wänden ab und das Unkraut im Vorgarten reichte ihr bis zur Brust.  Das war vorübergehend ihr Leben, aber so würde es nicht bleiben.

Bleib doch wo der Pfeffer wächst, Arschloch!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt