Kapitel 6

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Mein Herz raste, als ich den Bahnhof King's Cross betrat. Eben gerade hatte ich mich von Miss Wright verabschiedet. Ich hatte ihr gerade so ausreden können, mich zum Bahngleis zu begleiten. Denn das wäre auch schon mein nächstes Problem: wo fand ich den? Auf meinem Fahrschein stand Gleis 9 3/4. Doof, dass es den bei den Muggeln nicht gab. Tja, blöd gelaufen. Ich hatte ja so absolut keinen Plan, wo das sein sollte. Was eigentlich nicht ganz stimmte: von der Zahlenfolge müsste ich zwischen Gleis 9 und 10 suchen. Nur gab es da nichts außer Backsteinsäulen. Und einen der Schaffner konnte ich ja schlecht fragen. Der würde mir gerade mal einen Vogel zeigen und mich wieder nach Hause zu Mami schicken. Und ja, so was hatte ich schon mal erlebt. Und zwar als ich auf eine Kunstausstellung gegangen war und einen der dort anwesenden Künstler gefragt hatte, ob er mir eine seiner Techniken genauer erklären könne. Damals war ich acht gewesen. Und so eine Abfuhr zu bekommen, hatte mich ziemlich erschrocken. Vor allem, da ich weder ein Zuhause, noch eine Mutter hatte. Zum Glück war Miss Wright mit mir dagewesen. Und Miss Wright wäre nicht Miss Wright, wenn sie nicht so als ob getan hätte, als wäre meine Mutter erst vor ein paar Tagen gestorben und ich so auch ganz neu im Heim war. Das Gesicht des Künstlers war einfach erste Sahne gewesen. Sein schlechtes Gewissen hielt wahrscheinlich noch bis heute an. Na ja, am Ende hatte er mir die Technik aber doch noch gezeigt, worüber ich heute ziemlich froh war. Oh man. Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Ich hatte zwar noch mehr als eine halbe Stunde, bis der Zug abfuhr, aber ich wollte auch nicht unbedingt auf die letzte Minute eintreffen. Langsam dackelte ich weiter zwischen dem 9 und 10 Gleis umher. Es musste irgendwo hier sein. Ein versteckter Eingang, den man nur fand, wenn man ein Zauberer war. Oder eben nur, wenn man davon wusste. Ich hatte so die böse Ahnung, dass es auf letzteres hinauslaufen würde. Toll. Also machte ich das, was mir am sinnvollsten erschien: ich beobachtete die Leute am Bahnhof. Wer verhielt sich sonderbar? Waren es Kinder, ungefähr in meinem Alter und mit riesigen Koffern? Oder war es eine Person mit einem außergewöhnlichen Haustier? Und ja, ich zählte Eulen und Kröten dazu. „Na komm schon, Penny!“, hörte ich plötzlich eine schrille Frauenstimme rufen. „Der Zug wird auch ohne dich abfahren!“ Neugierig regte ich den Hals. Die Frau, die gerufen hatte, war ziemlich auffällig gekleidet. Sie trug einen extravaganten, lila-blauen Hut, ein weites Kleid, wie ich es früher von meiner Grandma gekannt hatte, mit grellpinken Blumen und schwarzen Stickereien und den wohl außergewöhnlichsten und potthässlichsten Schuhen, die ich je gesehen hatte. Okay, zugegebenermaßen war ihr gesamtes Outfit sehr außergewöhnlich. „Tante Lizzy! Warte! Wir haben doch noch eine halbe Stunde!“ Moment! Eine halbe Stunde? Das passte super auf den Hogwartsexpress! Und die Stimme... ich hatte sie schon einmal gehört. Nur wo? „Penelope?“, rief ich, packte meinen Koffer und zerrte ihn in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. „Was? Wer...Robyn!“ Ich hatte richtig gelegen. Es war Penelope. Und sie war ganz eindeutig ebenfalls auf dem Weg zum Gleis 9 3/4. Passte ja wie die Faust aufs Auge. „Kann ich mit euch mitlaufen?“, fragte ich. „Ich finde den Eingang nicht...“ Penelope strahlte mich an. „Natürlich! Beim ersten Mal ist es ein bisschen schwierig.“ Dankbar lächelte ich sie an. „Tante Lizzy! Warte! Guck mal, wen ich getroffen habe!“ Sie bedeutete mir mit dem Kinn, weiter zu laufen. „Meine Tante ist ein bisschen eigen, starre sie also bitte nicht so an. Darauf reagiert sie allergisch.“ Ich nickte brav. Leute wegen ihrer Individualität zu begaffen, konnte ich so wie so nicht leiden. „Na, wer ist denn das?“, ertönte wieder die schrille Stimme, diesmal um einiges näher. „Das ist Robyn Harriot, ich habe sie letzte Woche in die Winkelgasse begleitet, erinnerst du dich?“ „Ah, ja! Natürlich!“, rief die Frau und strahlte mich an. Wow, sie hatte wirklich eine wahnsinnige Ausstrahlung. Und einen festen Griff. Den ich erbarmungslos zu spüren bekam. Ich versuchte freundlich zu lächeln, als sie mir um den Hals fiel und mich einmal außerordentlich fest drückte. Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich so etwas ja eigentlich nicht so wirklich leiden konnte? Gut, diesmal ließ ich es über mich ergehen. Schließlich brauchte ich ihre Hilfe. Und mir war diese einzigartige Frau sofort sympathisch. „Ich bin Liliane Clearwater, aber bitte, alle nennen mich Tante Lizzy!“ „Tante Lizzy?“, wiederholte ich überrascht. „Du hast es! Perfekt!“ Sie warf die Arme und die Luft und strahlte nochmal eine Spur mehr. „Du bist also das erste Mal hier, was? Kein Problem, wir zeigen dir alles, nicht war, Penny Schätzchen?“ Über Penelopes Wangen zog sich ein feiner roter Schimmer. Kaum zu übersehen, wie sehr sie ihren Spitznamen mochte. Ich grinste. „So, Robyn, meine Liebe! Es ist ganz einfach. Erstens: du nimmst deinen Koffer. Zweitens: du läufst los. Drittens, ist eigentlich noch Teil von Schritt zwei, aber irgendwie muss ich ja auf die fünft Schritte kommen. Also, du läufst zu der Mauer da,verstanden? Zu der da vorne. Viertens, du rennst gegen sie und fünftens, du kommst auf Gleis 9 3/4 wieder heraus. Wenn es gut läuft.“ „Wenn es gut läuft?“, wiederholte ich ungläubig. Ich sollte gegen eine Wand rennen und darauf hoffen, dass ich nicht dagegen rannte? Penelope seufzte leise. „Keine Sorge, Robyn. Tante Lizzy kann sich nur nicht merken, welche Säule die Richtige ist. Wir sind vor zwei Jahren gegen die falsche Absperrung gerannt, aber seit dem achte ich darauf, dass das eine einmalige Sache war, also alles gut!“ Na wenn sie das sagte... dann hoffte ich mal lieber, dass sie auch wirklich darauf geachtet hatte. „Weißt du was?“, Tante Lizzy lächelte mich aufmunternd an. „Wir rennen zusammen durch, okay? Nicht, dass du mir vorher abbremst!“ Ich nickte wortlos. Die Gefahr, dass ich einfach anhielt, bestand durchaus. Zwar glaubte ich mittlerweile an Magie und an all das, was sich gerade so abspielte, aber das war für mich noch lange kein Grund gegen Wände zu rennen. Zögerlich nahm ich Tante Lizzys Hand und umschloss sie mit meiner. „Bereit, meine Liebe?“ Ich atmete tief ein. „Bereit“, murmelte ich und schon rannten wir auf die Absperrung, beziehungsweise diese Steinsäule, zu. Oh. Mein. Gott. Was tat ich hier eigentlich? Die Wand kam immer näher. Das würde so was von eine heftige Beule geben. Ich schloss die Augen. Meine Hände umschlossen meinen Koffer und Tante Lizzys Hand eine Spur fester. Ich machte mich bereit für den Aufprall. Aber er kam nicht. Stattdessen wurde es laut. Sehr laut. Menschen riefen durcheinander. Es waren fröhliche Rufe. Langsam öffnete ich blinzelnd die Augen. Wir waren nicht mehr am King's Cross. Oder zumindest an keinem Teil, den ich je gesehen hatte. Mein Blick wanderte zu dem Gleisschild. 9 3/4. Wir waren also da. Am Gleis des Hogwartsexpresses. Mir klappte der Mund auf, als ich mich zu dem riesigen Zug umdrehte. Aus mehreren Fenstern guckten Arme heraus und überall verabschiedeten sich Schüler von ihren Eltern. Hier und da flossen sogar Tränen. Ich zog die Augenbrauen hoch. Immerhin blieb mir diese Peinlichkeit erspart. Ich hatte ja keine Eltern. „Siehst du, so schlimm war es doch gar nicht!“, lachte Tante Lizzy und klopfte mir auf die Schulter. Ich lächelte. Ja, dafür, dass es so babyleicht war, hatte ich mich ziemlich ängstlich angestellt. Warum eigentlich? Sonst war ich nie so. Ich meinte, schüchtern, klar, das war ich in den meisten Situationen, die mir noch nicht bekannt waren, aber ein Angsthase? Das war neu. Und das könnte auch gerne wieder gehen. „Oh man, ich hasse das! Jedes Jahr aufs Neue ein bisschen mehr!“, erklang plötzlich hinter uns Penelopes Stimme. Ihre Tante lachte und begann sie damit aufzuziehen, dass sie eben schlicht und ergreifend so viel Vertrauen in Magie besaß, wie ein misstrauischer, miesepetriger Gärtner in kleine Kinder. Ich lächelte, als Penelope gespielt verärgert bockig die Arme verschränkte und eine Schnute zog. „Das kann sie besser als jedes Kleinkind“, raunte mir Tante Lizzy ins Ohr und daraufhin musste ich noch eine Spur breiter grinsen. „Penny, zeigst du Robyn, wo sie das Gebäck abzugeben hat?“ „Natürlich! Kommst du?“ Ich nickte und schleifte meinen Koffer hinter ihr her. Die Sachen, die ich für die Fahrt behalten wollte, hatte ich bereits in eine weitere kleine Tasche gepackt. Unter anderem auch das Buch „Quidditch im Wandel der Zeiten“. Ich war noch nicht wirklich dazu gekommen, es ganz durchzulesen. Oder es überhaupt richtig anzufangen. Die Schulbücher hatten meine Aufmerksamkeit dann doch etwas mehr in Anspruch genommen. Das Abgeben der Koffer ging wider Erwarten ziemlich schnell. Kurz darauf standen Penelope und ich wieder bei Tante Lizzy und verabschiedeten uns. „Lasst euch nicht von den Lehrern ärgern. Und grüßt Peeves von mir! Ach, wie gerne würde ich auch nochmal nach Hogwarts... tja, das wird wohl nichts. Schleicht euch doch bitte an meiner Stelle in die Küche, okay?“ „Tante Lizzy!“, lachte Penelope. „Du sollst uns nicht motivieren, Chaos anzurichten!“ „Oh. Stimmt ja. Dann... lasst Hogwarts bitte stehen, okay? Der Rest ist mir egal. War das besser, Penny-Schätzchen?“ „Es war zumindest ein Versuch“, seufzte sie und umarmte ihre Tante liebevoll. Auch ich wurde wieder in ihre Arme geschlossen. „Wir sehen uns in den Ferien! Stell nichts Dummes an, Tantchen, klar?“ „Wie könnte ich nur, Mum?“, gab Tante Lizzy zurück und verdrehte lachend die Augen, ehe sie uns in den Hogwartsexpress scheuchte. „Tschüss!“, rief ich noch, ehe Penelope mich gänzlich ins Wageninnere schob. „Such dir am besten ein Abteil“, riet sie mir. „Wir sehen uns dann in Hogwarts!“ Und damit ließ sie mich alleine. Gut, alleine zu sein war keine ungewohnte Situation für mich. Ich genoss es sogar. Alleine bekam ich fast alles besser hin. Ich schob mich durch die engen Gänge an den Abteilen vorbei, die schon belegt waren. Ich wollte mich nicht unbedingt zu jemandem dazusetzten. Aber wenn es so weiterging, würde es darauf hinauslaufen. Ich spähte ins nächste Abteil. Es war leer. „Wie gewollt“, murmelte ich, öffnete die Tür und ließ mich auf den Sitz neben dem Fenster fallen. Jetzt konnte es losgehen. Hogwarts, ich war auf dem Weg!

Tales of a marauders daughter | Robyn Harriot | In Love With A WeasleyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt