Der restliche Abend war zum Glück doch noch besser, als erwartet. Wir saßen zusammen, hörten Musik, redeten und tranken Bier. Der Alkohol bewirkte, dass auch ich irgendwann offener wurde und mich eine ganze Weile mit einem Mädchen neben mir unterhielt. Ihr Name war Anna und sie war bereits seit ihrer Kindheit mit Valentin und Julian befreundet. Mittlerweile lebte sie allerdings nicht mehr in Berlin, sie war nur zu Besuch hier. Valentin schenkte mir den Rest des Abends keine große Beachtung, er unterhielt sich mit einem schlaksigen Typen neben sich über irgendwelche Filme. Ein Thema, das ihn wirklich zu interessieren schien. Julian hingegen war aufmerksam, stellte mir einige Fragen zu meiner Vergangenheit und sorgte dafür, dass ich stets etwas zum Trinken hatte, aber seine Freundin erwähnte er weiterhin nicht. Ich fragte mich inzwischen, ob ich das Gespräch zwischen ihm und seinem Bruder vielleicht missverstanden hatte.
Gegen drei Uhr beschlossen wir, nach Hause zu fahren. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass man hier auch mitten in der Nacht problemlos nach Hause kam. Dort, wo ich herkam, fuhren ab 22 Uhr keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. "Wo wohnst du eigentlich?" Fragte ich Julian draußen. "In Mitte", erklärte er. "Ah, dann hast du es ja nicht ganz so weit wie ich." "Stimmt, aber ich bringe dich zuerst nach Hause", entgegnete er. "Unsinn, das musst du nicht." "Komm schon, Julie. Wenn ich dich einlade, dann sorge ich auch dafür, dass du sicher wieder nach Hause kommst." Ich seufzte, er wirkte, als ließe er sich sowieso nicht von diesem Vorhaben abbringen. "Na schön. Danke!" Wir stiegen in die U-Bahn, es war nicht viel los und ich war plötzlich hundemüde, also legte ich meinen Kopf auf Julians Schulter und er legte seinen Arm um meinen Rücken. Plötzlich spürte ich doch eine gewisse Nähe zwischen uns, aber vielleicht war sie auch nur dem Alkohol und meiner Müdigkeit geschuldet. "Wohnst du eigentlich allein?" Fragte ich nach einer Weile, in der Hoffnung, die Wahrheit zu erfahren. Julian zögerte einen Augenblick, als müsse er genau abwägen, was er sagte. "Nein, mit meiner Freundin", antwortete er schließlich. Aha, es stimmte also doch. Ich versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken. "Ach so und wo ist sie?" "Sie ist Bloggerin und deshalb viel unterwegs. Aktuell ist sie für einige Wochen in Italien", erklärte er. "Oh, das klingt spannend." Jetzt war ich neugierig, ich musste mir morgen unbedingt ihren Blog ansehen. "Ja, aber man sieht sich halt nicht oft." Ich nickte. Offenbar fühlte er sich einsam, dieses Gefühl kannte ich nur zu gut. "Was machst du? Bist du auch Schauspieler?" Wollte ich wissen. Er schüttelte den Kopf. "Nein, Valentin hat sich da inzwischen einen Namen gemacht und geht auch total darin auf, aber mein Ding ist das nicht so. Ich verdiene Geld mit Social Media und ich habe vor einiger Zeit ein Start-up gegründet." "Klingt interessant", meinte ich, dachte aber gleichzeitig darüber nach, ob Menschen wie er und sein Bruder überhaupt nachvollziehen konnten, wie es war, ein ganz normales Leben zu führen. Aber was konnte er schon dafür, er hatte sich ja auch nicht ausgesucht, als Promi-Sohn auf die Welt zu kommen. "Und du? Hast du schon eine Idee, was du statt deines Studiums machen willst?" Fragte er, weil ich ihm erzählt hatte, wie unglücklich mein Studium mich machte. Ich seufzte. "Falsches Thema." "Sorry", Julian betrachtete mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht richtig zu deuten vermochte. "Dann arbeite einfach weiterhin im Club, immerhin lernst du dort coole Leute kennen", bemerkte er grinsend. Ich seufzte. "Mir bleibt wohl vorerst nichts anderes übrig." "Das klingt nicht, als würde dir die Arbeit dort Spaß machen." "Nicht besonders", gab ich zu. Julian zuckte mit den Schultern. "Du findest schon noch etwas, hier hat man ja fast alle Möglichkeiten." Ich nickte und tat so, als würde ich ihm glauben.
Wenig später erreichten wir die Haltestelle in der Nähe meiner Wohnung. Draußen standen wir uns schweigend gegenüber und wenn Julian nicht vergeben gewesen wäre, wäre dies vermutlich der Moment gewesen, in dem wir uns geküsst hätten. So umarmten wir uns nur flüchtig. "Danke, dass du mich mitgenommen hast", sagte ich ehrlich. "Und natürlich fürs Heim bringen." Julian lächelte und ich war sicher, dass die Mädels bei diesem Anblick reihenweise dahinschmolzen. Ob Rebecca nicht eifersüchtig war? "Dafür nicht. Ich hoffe, du hattest auch einen guten Abend", antwortete er. Ich nickte. "Den hatte ich", und es stimmte tatsächlich. "Vielleicht sehen wir uns bei Gelegenheit mal wieder", meinte Julian. "Spätestens, wenn ihr wieder feiern geht", entgegnete ich mit einem Augenzwinkern. "Das wird nicht lange dauern", er grinste. "Also dann", er wandte sich zum Gehen. Ich winkte ihm noch einmal zu und lief dann in Richtung meiner Wohnung. Während ich durch die angenehm kühle Nachtluft lief, versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren, doch es gelang mir nur bedingt. Vielleicht war es dem Alkohol geschuldet. Ich versuchte zu ergründen, ob ich enttäuscht war, weil Julian eine Freundin hatte. Seltsamerweise war ich das nicht, mich verwunderte nur, dass er so viel Kontakt zu mir suchte. Vielleicht ist er genauso allein wie du, dachte ich, konnte es mir aber eigentlich nicht vorstellen. Er hatte doch alles, was die meisten anderen Menschen sich wünschten.
Meine Mitbewohnerinnen schliefen bereits, als ich die Wohnung betrat. Leise machte ich mich fertig und ließ mich schließlich hundemüde ins Bett fallen. Dort sank ich schnell in einen unruhigen Schlaf, in dem ich immer wieder von Julian und seinem Bruder träumte.

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Neonliebe
Chick-Lit"Du bist so langweilig", raunte Valentin mir zu. „Langweilig, ich?" Er lehnte sich zurück und stützte sich auf seinen Unterarmen ab, während er mich provokant ansah. „Du bist der Inbegriff von Langeweile." Wie mir dieser Typ und seine Überheblichkei...