Freitagabend - ich war seit wenigen Tagen endlich zurück in Berlin und wartete in Friedrichshain vor dem Haus, in dem Valentin wohnte, auf Julian. Der erschien wie so oft zehn Minuten später als verabredet. "Hey, sorry, dass du warten musstest", begrüßte er mich und nahm mich kurz in den Arm. Ich freute mich, ihn wiederzusehen. "Noch fünf Minuten länger und ich wäre eingefroren", scherzte ich, weil es wirklich eiskalt war. "Tut mir echt leid! Dann lass uns schnell reingehen", meinte Julian und drückte auf die Klingel. Rebecca war nicht in Sicht, aber ich fragte auch nicht nach, wo sie war. Mittlerweile war ich daran gewöhnt, dass Julian meist ohne sie unterwegs war und vielleicht war ich nach unserem kurzen Kennenlernen neulich auch ganz froh darüber.
Oben angekommen stand Valentin bereits in der Tür. Als ich ihn sah, erschrak ich kurz. Er hatte meiner Meinung nach abgenommen und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten als hätte er tagelang nicht geschlafen. Ich gab mir alle Mühe, mir meinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. „Happy Birthday, Bruderherz", rief Julian, der sich über Valentins Optik offenbar nicht wunderte. Die beiden hatten sich ja auch öfter gesehen in den letzten Wochen. Sie umarmten sich kurz und anschließend fiel Valentins Blick auf mich. „Hast du eine neue Freundin?" Fragte er an Julian gerichtet. Der verdrehte die Augen. „Rebecca ist in Köln, wie du weißt und da dachte ich, ich bringe Julie mit! Sie gehört doch sowieso dazu." Valentin nickte, machte aber keinen sehr begeisterten Eindruck. Das konnte ja heiter werden. „Alles Gute zum Geburtstag", sagte ich bemüht fröhlich und umarmte ihn, in der Hoffnung, seine Stimmung würde sich bessern. Valentin erwiderte meine Umarmung allerdings eher halbherzig. „Geht durch", meinte er dann und deutete in Richtung des Wohnzimmers. Ich folgte Julian nach drinnen. Mira, Jan und Lukas waren bereits da, außerdem auch Manu, Flo und einige Leute, die ich nicht kannte. „Julie, du bist ja auch da!" Im Gegensatz zu Valentin schien Manu sich aufrichtig über mein Erscheinen zu freuen. Er stand auf und begrüßte mich mit einer Umarmung. „Ja, Hi! Schön, dich zu sehen", ich lächelte. Julian beobachtete unsere Begrüßung mit Verwunderung. „Ihr kennt euch?" Hatte Valentin ihm also tatsächlich nicht erzählt, dass wir zusammen feiern gewesen waren? „Ja, Valentin hat uns schon mal vorgestellt", sagte ich schnell. „Aha." „Ja nice, dass du auch da bist. Wie geht's?" Fragte Manu. „Gut soweit, ich war über die Feiertage in meiner alten Heimat und bin erst seit vorgestern wieder in Berlin. Und dir so?" "Auch gut. Ich habe mir über Weihnachten freigenommen und jetzt geht es langsam wieder los mit dem Auflegen. Setz dich doch", er deutete auf den freien Platz neben sich und ich ließ mich zögerlich nieder. Julian sah nicht besonders erfreut aus, sagte aber nichts weiter und nahm gegenüber neben Lukas Platz.
Ich unterhielt mich eine ganze Weile mit Manu, bis sein Handy klingelte und er zum Telefonieren auf den Balkon verschwand. Julian war inzwischen in ein Gespräch mit Lukas vertieft und so stand ich auf, um mir etwas zum Trinken zu besorgen. Auf dem Weg in die Küche blieb mein Blick allerdings an Valentins riesigem Regal voller DVDs, Bücher und Fotos hängen. Ich ging näher heran, um mir die Bücher genauer anzusehen. Plötzlich wurden mir von hinten zwei Hände auf die Schultern gelegt und ich zuckte erschrocken zusammen. „Finger weg von meinen Drehbüchern!" - Es war Valentin. Ich atmete aus. „Musst du mich so erschrecken?" „Musst du meine Sachen durchwühlen?" „Ich durchwühle deine Sachen nicht, ich habe mir lediglich deine Bücher und DVDs angeschaut", stellte ich klar. Valentin nahm seine Hände von meinen Schultern. „Sind das wirklich alles Drehbücher?" „Yes." „Krass, das sind ziemlich viele." Valentin schaute auf die Bücher. „Die Filme sind noch nicht alle draußen", erklärte er und zog dann eines der Bücher heraus. „Hier, das kannst du dir angucken, wenn du willst." „Danke", murmelte ich. Neugierig blätterte ich das Skript durch, ich hatte – wie vermutlich die meisten Menschen – noch nie ein originales Drehbuch in den Händen gehalten. Ich kannte den Film nicht, aber er war scheinbar bereits vor drei Jahren erschienen. Val schien eine Hauptrolle gespielt zu haben, es war ziemlich viel Text und an vielen Stellen hatte er Markierungen vorgenommen und Anmerkungen an den Rand gekritzelt. „Wie kannst du dir das alles merken?" Fragte ich bewundernd. Er zuckte mit den Schultern. „Lernen. Man geht es dann auch noch mal gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen durch und dann klappt das meist schon." „Wow", ich gab ihm das Buch zurück und war jetzt noch faszinierter, obwohl er heute schon wieder ziemlich distanziert war. Es war unsere erste Unterhaltung, seitdem Julian und ich seine Wohnung betreten hatten. "Ist alles okay bei dir?" Fragte ich ihn. "Du siehst so dünn aus irgendwie." Valentin schaute an sich herunter. "Ja, ich musste ein bisschen abnehmen für meine neue Rolle, wir fangen bald an zu drehen", erklärte er. "Oh, das stelle ich mir nervig vor, so über Weihnachten." Er zuckte nur mit den Schultern. "Weihnachten ist eh nicht so mein Ding." Er war wirklich nicht sehr zugewandt heute. Zum Glück gesellte Julian sich kurz darauf zu uns und verwickelte seinen Bruder in ein Gespräch über dessen neues Skateboard, dem ich allerdings nur mit halbem Ohr lauschte, während ich weiter die DVD-Sammlung scannte.
Einige Stunden später saßen wir alle zusammen am Tisch, es wurde wild durcheinander gesprochen und ziemlich viel getrunken. „Hier", Valentin ließ sich neben mich fallen und drückte mir ein Schnapsglas in die Hand. „Muss das sein? Mir ist jetzt schon schlecht", protestierte ich. „Ach, jetzt stell dich nicht so an, der geht noch", meinte Val. „Hey, jetzt lass sie halt", mischte Julian sich ein. Val verdrehte die Augen und nahm sich selbst ein Schnapsglas vom Tablett, Julian tat es ihm gleich. Widerwillig roch ich an dem Getränk – mir drehte sich schon jetzt fast der Magen um. „Boah, riecht das ekelhaft", bemerkte ich. „Du musst nicht...", setzte Julian an. „Ey, sie ist doch dabei", warf Valentin genervt ein. Ich seufzte, hielt das Glas in die Luft und wartete auf Valentins Kommando. Der und Flo kippten den Schnaps herunter, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, während Julian, Manu und ich angeekelt das Gesicht verzogen. „Boah, das schmeckt wie Spiritus", bemerkte Julian. Val lachte. „Ist doch geil!" Ich stellte mein Glas zurück auf das Tablett und überlegte, wie ich nach Hause kam, bevor das hier in einem Besäufnis ausartete.
In einem unbeobachteten Moment drehte mich zu Julian. "Ich glaube, ich mache mich auf den Weg nach Hause", sagte ich. Julian nickte. „Okay, dann gehen wir!" „Wirklich? Willst du nicht noch bleiben?" Ich war verwundert, schließlich war es der Geburtstag seines Bruders. „Ne, ich glaube, ich bin auch raus." „Na gut." Wir standen also auf, verabschiedeten uns von den anderen und zogen unsere Jacken über. Gerade, als wir die Wohnung verlassen wollten, erschien Valentin im Flur. „Ey Spaßbremse!" Rief er. Ich verdrehte genervt die Augen, verzichtete aber darauf, ihn daran zu erinnern, dass er mich nicht mehr so nennen wollte – es würde ohnehin nichts bringen. „Was?" Fragte ich deshalb nur. „Kannst du fangen?" Fragte er. Verwirrt sah ich ihn an. Er verschwand für einen Augenblick hinter einer Tür und kam kurz darauf mit einem Päckchen in der Hand zurück. „Dein Weihnachtsgeschenk", meinte er und warf mir das Päckchen dann einfach zu. Geistesgegenwärtig fing ich es auf, es war zum Glück weich und wäre vermutlich auch nicht kaputt gegangen, wenn es auf dem Boden gelandet wäre. Wieso schenkte er mir etwas zu Weihnachten und warum überreichte er es mir auf so dämliche Art und Weise? Er hätte den ganzen Abend lang Zeit gehabt. „Danke", murmelte ich verwirrt. Vielleicht war es irgendetwas gemeines, wer wusste das bei Val schon so genau. Der nickte. „Kannst du ja Zuhause auspacken." „Mache ich", murmelte ich und folgte dann Julian nach draußen.
„Dein Bruder hat echt Stimmungsschwankungen", bemerkte ich als wir die Straße erreicht hatten. Julian nickte. „Naja, er bereitet sich auf eine Rolle vor, Schauspieler können da manchmal ziemlich seltsam werden. Glaub mir, ich kann ein Lied davon singen." „Stimmt, du bist ja in deiner Familie umgeben von Schauspielern." Stellte ich fest. „Ja, und es ist nicht immer witzig. Mein Vater sperrt sich schon mal zwei Monate lang in irgendeiner Hütte ein und kommt nicht mehr raus. Und Val hat mal ein Sektenmitglied gespielt, da dachten wir, der dreht jetzt völlig durch." „Ehrlich?" „Ja, man lebt halt irgendwie mit all diesen Charakteren. Sie müssen ja die Rolle und die Gegebenheiten ausgiebig studieren, um sie hinterher überzeugend verkörpern zu können." „Verstehe", murmelte ich und spürte einen seltsamen Anflug von Traurigkeit. War es das also wieder mit dem netten Valentin? War er am Ende sogar auch nur eine Rolle gewesen, die er gespielt hatte? Wer wusste das schon so genau. Julian legte mir einen Arm um die Schultern. „Nimm's nicht so schwer, nächstes Mal ist er bestimmt wieder netter zu dir oder wir hängen halt einfach ohne ihn ab." „Mh." Wenn der wüsste. „Komm, ich bringe dich nach Hause", meinte er dann. "Musst du nicht", sagte ich, war insgeheim aber doch froh darüber, denn ich spürte den Alkohol jetzt ziemlich deutlich. "Keine Widerrede", entgegnete Julian und zog mich einfach mit sich zur Haltestelle.
Als wir endlich in der U-Bahn saßen, legte Julian wieder den Arm um mich, so wie er es auch beim ersten Mal getan hatte, als er mich nach Hause gebracht hatte. Ich betrachtete ihn von der Seite. "Weißt du eigentlich, dass ich sehr froh bin, dass wir uns damals im Club begegnet sind?" Fragte ich ihn. Julian sah mich an. "Wirklich?" "Mh." Möglicherweise deutete er meine Worte falsch, denn er blickte mir sehr tief in die Augen und plötzlich - bevor ich mit meinem vom Alkohol vernebelten Gehirn überhaupt reagieren konnte - lagen seine Lippen auf meinen. Einen kurzen Augenblick lang schloss ich die Augen und erwiderte seinen Kuss, der sich ganz anders anfühlte, als die Küsse von Valentin. Irgendwie sanfter und vorsichtiger, so wie die beiden eben auch vollkommen unterschiedlich waren. Dann kam ich allerdings wieder in der Realität an, weil Julian sich abrupt von mir löste. Erschrocken öffnete ich die Augen und fühlte mich plötzlich wieder vollkommen nüchtern. "Das war..., ich wollte nicht... Oh man, sorry!" Julian suchte offenbar nach den richtigen Worten. Ich schüttelte den Kopf und berührte in vorsichtig am Arm. "Schon gut, vergiss es einfach", sagte ich schnell. "Wirklich?" "Ja, wir sind doch beide total betrunken." Julian schien sich ein wenig zu entspannen. "Ich weiß, aber trotzdem... Das wollte ich nicht!" "Ich weiß, schon okay", murmelte ich und hoffte, dass wir bald die Haltestelle erreichten.

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Neonliebe
ChickLit"Du bist so langweilig", raunte Valentin mir zu. „Langweilig, ich?" Er lehnte sich zurück und stützte sich auf seinen Unterarmen ab, während er mich provokant ansah. „Du bist der Inbegriff von Langeweile." Wie mir dieser Typ und seine Überheblichkei...