Der Kuss mit Valentin ging mir auch einige Tage später nicht aus dem Kopf, als ich versuchte, mich auf ein Vorstellungsgespräch vorzubereiten, zu dem man mich kürzlich eingeladen hatte. Wie kam ich überhaupt auf die Idee, mit diesem Idioten herumzumachen und noch schlimmer: Wieso hatte es einem Teil von mir auch noch gefallen? Ich versuchte, es auf den Alkohol zu schieben, aber wahrscheinlich wusste ich in meinem tiefsten Inneren, dass die Erklärung doch nicht ganz so einfach war. Womöglich lag es viel eher daran, dass ich bisher noch nicht so viele Erfahrungen mit Männern gesammelt hatte. Genau genommen hatte ich in meinem Leben bisher eine einzige Beziehung geführt - mit Robin aus meiner Parallelklasse. Wir waren immerhin zwei Jahre lang ein Paar gewesen, aber in irgendwo in meinem Herzen hatte ich immer gespürt, dass er nicht der Richtige für mich war, obwohl er diesbezüglich vollkommen anderer Meinung war, er hätte alles für mich getan und wahrscheinlich wären wir jetzt bereits verheiratet, wenn es nach ihm gegangen wäre. Er rief mich heute noch manchmal an und meine beste Freundin Lara behauptete, dass er noch immer in mich verliebt wäre. Wenn ich daran dachte, bekam ich immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm das Herz gebrochen hatte.
Ich seufzte und versuchte, mich wieder auf den Bewerbungsratgeber vor mir zu konzentrieren. "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" , stand dort. Woher sollte ich das wissen? Eine Nachricht von Julian riss mich abermals aus meiner Konzentration. Verwundert warf ich einen Blick auf mein Handy, ich hatte seit dem letzten Treffen nichts mehr von Julian gehört. Insgeheim hatte ich mich bereits gefragt, ob er doch von dem Kuss wusste und nun sauer oder eifersüchtig war. Offenbar war das allerdings doch nicht der Fall. Jedenfalls fragte er, ob ich am Samstag mit in einen Club kommen wollte. Ich überlegte kurz. Das Vorstellungsgespräch sollte am Freitag stattfinden und ich musste an diesem Wochenende nicht arbeiten, es sprach also nichts dagegen, mitzugehen. Außer vielleicht der Tatsache, dass ich nicht wusste, wie ich Valentin gegenübertreten sollte und es unwahrscheinlich war, dass Julian ohne seinen Bruder auftauchte, die beiden waren quasi unzertrennlich. Vor allem Julian schien sehr an Valentin zu hängen, ich war mir nicht immer sicher, ob das auf Gegenseitigkeit beruhte. Valentin wirkte jedenfalls eigenständiger als sein Bruder, aber er war ja auch der ältere. Jetzt dachte ich schon wieder über diesen Idioten nach. Schnell tippte ich eine Antwort an Julian: "Hey, ich habe am Wochenende frei und komme gerne mit :-) Sag mir am besten einfach Bescheid, wann und wo wir uns treffen! LG Julie", dann legte ich das Handy beiseite und versuchte abermals, mich aufs Lernen zu konzentrieren.
Am Freitag war es soweit - ich stand vor der Rechtsanwaltskanzlei in der ich gleich ein Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungsplatz zur Rechtsanwaltsfachangestellten hatte. Nachdem eine Auszubildende ihre Ausbildung abgebrochen hatte, war dort nun kurzfristig ein Platz freigeworden. Aufgeregt betrat ich das Gebäude und wurde freundlich von einer ziemlich schick gekleideten jungen Frau in Empfang genommen. Sie führte mich in einen Raum, in dem drei weitere Personen auf mich warteten. Das Gespräch dauerte nur eine halbe Stunde und verlief insgesamt gut, ich konnte die meisten der gestellten Fragen beantworten, war mir aber auch nach dem Gespräch nicht sicher, ob dies der richtige Beruf für mich war. Doch worin bestanden meine Alternativen? Ein weiteres Jahr im Club jobben? Etwas anderes studieren? Ich drückte mich noch immer vor dem Gespräch mit meinen Eltern, weil ich mir sicher war, dass sie mich zwingen würden, zurück nach Hause zu kommen und das wollte ich aktuell um jeden Preis verhindern. Ich fing gerade an, mich in Berlin wohlzufühlen.
Am nächsten Abend wartete ich am vereinbarten Treffpunkt auf Julian und den Rest der Clique. Sie wollten in einen ziemlich angesagten Club, in dem ich noch nie gewesen war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob man mich hereinlassen würde, aber in Begleitung der Löwenstein-Brüder standen meine Chancen wahrscheinlich nicht so schlecht. Ich hatte außerdem extra mein schönstes Partykleid angezogen. Bis auf einen goldenen Gürtel war es komplett schwarz, kurz und besaß einen auffälligen Rückenausschnitt. Dazu trug ich High Heels, die ich bereits jetzt verfluchte, womöglich musste ich später barfuß nach Hause gehen. Julian, Valentin, Mira, Lukas und ein Typ, den ich nicht kannte, trafen kurz nach mir ein. Julian umarmte mich als erster. "Wow, du siehst schick aus", meinte er. "Danke", ich lächelte und freute mich, ihn wiederzusehen. Von Rebecca war wieder einmal keine Spur zu sehen, allmählich fragte ich mich, ob sie überhaupt existierte. Ich kam allerdings nicht dazu, mir weitere Gedanken darüber zu machen, denn auch die anderen begrüßten mich. Valentin umarmte mich eher flüchtig, er roch wie immer nach einer Mischung aus Zigaretten und Parfüm und sah aus, als hätte er mindestens drei Nächte lang nicht geschlafen. Ich dachte kurz darüber nach, ob dieser Lifestyle auf Dauer gesund sein konnte. "Gehen wir rein?" Fragte Julian, der direkt neben mir stand. Ich nickte. "Ich bin gespannt, soll ja ziemlich angesagt sein", meinte ich. Hoffentlich hatte ich überhaupt genug Geld mitgenommen. "Ja, ist ziemlich cool", bestätigte Julian. Wir kamen problemlos durch die Einlasskontrolle. Im Club wurden Julian und Valentin prompt von einer Gruppe Mädchen angestarrt, man konnte förmlich sehen, wie sie Herzchen in den Augen hatten. Ich dachte kurz darüber nach, ob das nicht mega nervig sein musste und war froh, selbst kein Promi zu sein - obwohl das auch seine guten Seiten hatte, denn wir bekamen eine ganze Lounge für uns allein, von der aus man einen guten Überblick über das Geschehen hatte. Ich sah mich um, es war noch nicht allzu viel los, doch der Club füllte sich allmählich. Einige Personen hatten bereits die Tanzfläche gestürmt und an der Bar bildete sich eine Schlange. Mir gefiel vor allem die Atmosphäre und die Einrichtung, die Bar bestand aus Milchglas, das in verschiedenen Farben leuchtete und über den Boden breitete sich langsam Nebel aus.
"Wie war deine Woche?" Fragte Julian, nachdem wir uns auf die bequemen Lederbänke gesetzt hatten. "Ganz gut, ich hatte gestern ein Vorstellungsgespräch, sie wollen sich nächste Woche melden", erklärte ich. Julian lächelte. "Das ist doch super." "Na dann geht der Champagner ja heute wohl auf unsere Spießerin", warf Valentin von der Seite ein. Ich verdrehte die Augen. Hörte er also immer noch nicht damit auf? Julian legte mir beschützend einen Arm um die Schultern. "Quatsch, der geht auf mich", sagte er und meine Stimmung erhellte sich ein wenig.

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Neonliebe
ChickLit"Du bist so langweilig", raunte Valentin mir zu. „Langweilig, ich?" Er lehnte sich zurück und stützte sich auf seinen Unterarmen ab, während er mich provokant ansah. „Du bist der Inbegriff von Langeweile." Wie mir dieser Typ und seine Überheblichkei...