2. Wiedersehen

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Ich sah Julian und seinen Bruder in dieser Nacht nicht mehr - wahrscheinlich hatten sie ihre Jacken bei Carlotta abgeholt. Allerdings bekam ich am nächsten Tag tatsächlich eine Nachricht von Julian: 

"Hey Julie, wie sieht's aus, bist du heute Abend dabei? Viele Grüße, Julian."

Ich las die Nachricht dreimal, weil ich nicht glauben konnte, dass er sich wirklich bei mir gemeldet hatte. Schließlich sagte ich zu und erfuhr, dass es sich wohl um eine größere Gruppe von Leuten handelte, mit denen er feiern gehen wollte, aber sie wussten noch nicht genau, wo sie hinwollten. Wir verabredeten uns erst einmal vor einem Spätkauf in der Nähe meiner Wohnung. Ich war ziemlich aufgeregt, normalerweise fühlte ich mich aufgrund meiner Schüchternheit unter fremden Menschen nicht besonders wohl. Aber wenn ich in Berlin bleiben wollte, wurde es wohl langsam Zeit, Anschluss zu finden. Außer Carlotta und meinen beiden Mitbewohnerinnen hatte ich hier niemanden. 

Abends wartete ich am verabredeten Treffpunkt auf Julian, der mit fünfminütiger Verspätung schließlich auch eintraf. Er gab mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, was mich prompt erröten ließ. Hoffentlich sah er es im Laternenlicht nicht. "Hey, wo sind denn die anderen?" Fragte ich verwundert. "Also, die haben beschlossen, eine Home-Party bei meinem Bruder zu feiern und ich schlage vor, dass wir dort auch hingehen", erklärte er. Ich starrte auf meine Füße. "Ich weiß nicht", meinte ich schließlich. "Dein Bruder war ja gestern nicht besonders freundlich zu mir. Ich glaube nicht, dass er sich freut, wenn du mich mitbringst. Weiß er davon?" Julian grinste. "Nein, aber entspann dich. Valentin ist eigentlich echt okay, der hatte gestern nur einen schlechten Tag." Ich seufzte. "Na, wenn du meinst. Auf deine Verantwortung." Er grinste. "Alles klar." Wir besorgten noch Bier, dann machten wir uns auf den Weg. Wir nahmen die U-Bahn, weil Valentin etwa zwanzig Minuten entfernt von mir in Friedrichshain wohnte. Dort standen wir schließlich vor einem schicken Altbau. Auf den ersten Blick hätte ich Valentin hier gar nicht verortet. 

"Was ist? Gehen wir rein oder willst du Wurzeln schlagen?" Fragte Julian, als ich wohl wieder einmal zu sehr in meinen Gedanken versunken war. "Los geht's", meinte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Wir nahmen die Treppe und ich war froh, als wir endlich im dritten Stock ankamen. Ich musste dringend mehr Sport machen. Julian klingelte und kurz darauf erschien Valentin in der Tür. "Hey", meinte er, dann blieb sein Blick an mir hängen. Zu meiner Verwunderung trat er erst einmal zur Seite und ließ uns hinein. "Was macht die graue Maus von der Garderobe hier?" Fragte er aber dann doch, als Julian an ihm vorbeilief. "Ey, sei nicht gemein. Ich habe sie eingeladen", antwortete der nur. Valentin zuckte mit den Schultern. "Na dann, kommt rein." Er ging durch den langen schmalen Flur wahrscheinlich ins Wohnzimmer, während wir noch unsere Jacken auszogen und ihm dann folgten. Die Wohnung war ziemlich groß - und chaotisch, aber sie war durchaus individuell und kreativ eingerichtet. Wäre es nicht Valentins Wohnung, hätte ich mich hier vermutlich ganz wohlgefühlt. An den Wänden hingen einige große Bilder und zwei Skateboards, auf einem Sideboard standen mehrere Auszeichnungen, die Valentin wohl gewonnen hatte. Soweit ich informiert war, arbeitete er als Schauspieler, genau wie sein Vater. An einem großen Holztisch saßen bereits einige Leute - fünf Männer und zwei Frauen, die mich nun neugierig musterten. Ich sprach mir innerlich Mut zu. "Leute, das ist Julie, ich habe sie im Club kennengelernt. Sie ist neu in Berlin und ich dachte, ich bringe sie einfach mal mit", erklärte Julian. Die anderen schienen alle nett zu sein, jedenfalls grüßten sie mich freundlich. Julian reichte mir ein Bier und dann setzten wir uns zu ihnen. Valentin beachtete mich nicht weiter, war aber wenigstens nicht so schlecht gelaunt, wie am Vortag. Vielleicht hatte er tatsächlich nur einen schlechten Tag gehabt. Irgendwann verschwanden er und Julian allerdings und ich beschloss, zur Toilette zu gehen, weil ich nicht wusste, worüber ich mit den anderen sprechen sollte. Smalltalk gehörte wirklich nicht zu meinen Stärken. 

Auf der Suche nach dem Badezimmer hörte ich Julian und Valentin reden, sie waren scheinbar in der Küche. Ich blieb neben der Tür stehen, so dass sie mich nicht sehen konnten. „Ganz ehrlich man, was macht die Spaßbremse hier?" Fragte Valentin und mir war klar, dass er damit mich meinte. Wie ich diesen Typen hasste, am liebsten wäre ich auf der Stelle abgehauen, aber mich interessierte Julians Antwort zu sehr. „Keine Ahnung, sie kennt hier ja bisher kaum Leute, also dachte ich, es wäre nett, sie mitzunehmen." Hatte er etwa Mitleid mit mir? Valentin seufzte genervt. „Fickst du sie?" Ging es noch? „Nein", antwortete Julian und ich wollte gerade meine Jacke nehmen und abhauen, als Valentin sich vielleicht zum ersten Mal ein wenig sympathisch machte. „Und was ist das dann für dich? Dein Zeitvertreib, bis Rebecca wieder zurück ist? Das ist nicht okay, man", sagte er zu seinem Bruder. Wer war Rebecca? Julian schien eine Freundin zu haben, die er mir gegenüber bisher nicht erwähnt hatte. Was ich davon halten sollte, wusste ich nicht genau. Ich kannte ihn ja kaum und war auch nicht davon ausgegangen, dass er an mehr als Freundschaft interessiert sein könnte, also störte es mich eigentlich nicht besonders. Trotzdem war es komisch, dass er sie mit keiner Silbe erwähnt hatte. „Ich weiß. Da läuft nichts, ich finde sie einfach sympathisch", erklärte Julian jetzt. „Na, wenn du das sagst." „Heißt das, sie kann bleiben und du lässt sie in Ruhe?" „Von mir aus", murmelte Valentin gleichgültig und ich verschwand gerade noch rechtzeitig im angrenzenden Badezimmer, bevor sie die Küche wieder verließen. Ich versuchte, das Gespräch im Kopf zu rekonstruieren und einzuordnen, aber ich wurde nicht schlau daraus. Was wollte Julian wirklich von mir? Und warum hasste sein Bruder mich so sehr? 

NeonliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt