Der ganze Strand in der Nähe vom Hafen war in ein rötliches Licht getaucht. Die Sonne ging gerade auf, die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in der See. Die versteckte Bucht lag in der Nähe von French Harbour, genau dort ankerte die Dragonfly.
Hier waren sie Lilys Mannschaft das erste Mal entflohen, ganz am Anfang ihrer Geschichte. Das war inzwischen Ewigkeiten her, dachte sich Lily, während ihr Ryan aus dem Ruderboot half. Eigentlich waren es nur ein paar Wochen, in denen das alles passiert war. Aber in diesem Zeitraum hatte Lily mehr erlebt, als in ihrem ganzen Leben zuvor.
"Und du bist dir sicher, dass du nicht bleiben willst?", fragte Frances und sah die Rothaarige traurig an. Das hatte auch Ryan hellhörig gemacht, denn er sah sofort auf. Lily jedoch schüttelte den Kopf:
"Die Zeit mit euch war nicht so schlecht, wie ich am Anfang gedacht habe. Aber die Piraterie ist einfach nichts für mich." So leicht, wie sie tat, war diese Entscheidung für sie nicht gewesen. Lily hatte sich in das Adrenalin und die See verliebt, vorallem aber in Ryan. Der chaotische Piratencaptain war der Hauptgrund, wieso sie vielleicht doch geblieben wäre. Doch ihr Gerechtigkeitssinn und ihr Wille, für das Gute zu kämpfen, hielten sie davon ab.
"Es tut uns wirklich leid, Lily. Das hättest du alles gar nicht miterleben sollen.", entschuldigte sich Frances, die anderen nickten.
"Deshalb hier eine kleine Entschädigung." Finn hievte einen Beutel voller Goldmünzen aus dem Ruderboot und lud ihn neben Lily ab.
"Das wäre doch nicht nötig gewesen."
"Ach was, wir haben wortwörtlich Gold ohne Ende.", witzelte Jake und legte seinen Arm um Carrie. Diese lachte, dann fragte sie besorgt:
"Und du bist dir sicher, dass du hier ein paar deiner Leute finden wirst?"
"Ich bin mir sehr sicher. Wir bleiben nicht umsonst bei jeder Gelegenheit in French Harbour stehen."
Kurz sagte niemand etwas. Alle wussten, dass nun der Abschied kam. Jake war der Erste, der seufzte und dann sagte:
"Lass dich nicht mehr von Piraten verarschen, das erspart dir eine Menge Ärger."
"Und wenn doch, sag ihnen nicht, dass du Ryan kennst. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie dich dann sofort von der Planke schicken.", gab ihr auch Finn einen gut gemeinten Rat. Die beiden verabschiedeten sich von ihr, dann gingen sie schon einmal voraus zum Beiboot. Frances war die Nächste:
"Danke für alles, Lily."
"Ja, danke dass du uns gerettet hast. Und danke, dass du nicht mehr wütend auf uns bist.", fügte Carrie hinzu. Lily winkte lachend ab und umarmte die beiden, die sich dann auch aufs Ruderboot verzogen. Nun waren nur noch sie und Ryan da. Der Captain fuhr sich verlegen durch die schwarzen Haare und sah auf Lily hinab.
"Und ich soll dir wirklich nicht mehr bis zum Hafen helfen?"
"Ich krieg das schon hin. Immerhin bin ich selbst Kapitänin auf meinem eigenen Schiff, da werde ich wohl eine kleine Wanderung durch den Wald überstehen."
Ryan grinste:
"Halt Ausschau nach einem Schiff mit roten Segeln, wenn du das nächste Mal in See stichst."
"Wir werden uns wieder sehen, oder?"
"Irgendwann sicher. Wenn es mir zu lange dauert, entführe ich dich einfach noch einmal." Für einen kurzen Moment dachte Ryan, er wäre mit diesem Witz zu weit gegangen. Dann aber lachte Lily und antwortete:
"Vielleicht bin ja ich das nächste Mal die, die dich entführt."
Ryans Augenbrauen zuckten nach oben:
"Damit könnte ich leben."
Für einen kurzen Moment sahen sie sich verträumt an, dann küssten sie sich. Als sie sich wieder von einander lösten, schlugen die Herzen der beiden wie wild. Lily flüsterte:
"Auf Wiedersehen, Ryan."
"Bis bald, Lily."
Und mit diesen Worten drehte sich die Rothaarige um, schwang sich den Sack voll Gold über ihre Schulter und ging auf den kleinen Weg zu, der zum Hafen führte. Ryan hingegen setzte sich seufzend in das kleine Boot. Jake und Finn begannen zu rudern, doch alle fünf sahen ab und zu noch zum Strand, wo Lily stand und ihnen nachschaute. Das tat sie noch sehr lange. Erst, als die Dragonfly am Horizont verschwunden war, ging Lily nach French Harbour, um in ihr altes Leben zurückzukehren. Sie selbst aber war nicht mehr die Alte. Sie hatte sich seit ihrer Entführung verändert, und irgendwie gefiel ihr die neue Lily.
Auf der Dragonfly herrschte eine komische Stimmung. Carrie und Frances saßen auf der Treppe und streichelten Tiger. Dieser legte sich auf den Bauch und hächelte glücklich. Finn und Jake falteten währenddessen eine große Karte auf dem Kapitänstisch auf- wohin ging es als nächstes? Elias saß an seinem Notizbuch, Sam hingegen kletterte gerade den Mast hinauf. In der Küche stand Nino und schälte Kartoffeln, doch seine Gedanken waren weit weg. Ryan stand am Steuerrad und blickte nachdenklich in die Ferne. Da plötzlich räusperte sich jemand neben ihm. Jolene.
"Ich habe über dein Angebot nachgedacht."
"Und?"
Ryan hoffte inständig, dass sie zustimmte. Es war Jims letzter Wunsch gewesen. Auch Jolene war das bewusst, denn sie sagte:
"Ich mach es. Ich werde eure neue Schiffszimmerfrau."
Sofort erhellte sich Ryans Miene und er jubelte:
"Das ist wunderbar! Lass uns das feiern! Jake, wo ist der Rum?"
Jolene verdrehte belustigt die Augen. Aber sie lächelte das erste Mal seit Tagen, seit dem Tod ihres Bruder. Sogar ihre Augen fanden endlich ihr Funkeln wieder. Dasselbe Funkeln, das Jim immer in seinen Augen hatte. Jolene hatte mit der Crew der Dragonfly ein zuhause gefunden.
Wenig später hatte sich die ganze Crew versammelt. Frances lehnte lachend an Carrie, die Tiger hinter dem Ohr kraulte. Finn sah sie glücklich an: Niemals hätte er sich gedacht, bei der Entführung der beiden die Liebe seines Lebens zu finden. So ging es auch Jake, denn die beiden wechselten Blicke und Finn wusste, dass dieser gerade dasselbe dachte. Vielleicht war es kein Zufall, sondern Schicksal, dass sie genau diese beiden entführt hatten.
Elias betrachtete das Ganze von außen und zeichnete in sein Notizbuch. Auch er hatte sein Vorhaben erfüllt: Er hatte Inspiration und die große Liebe gefunden. Doch seine Liebe war kein Mädchen, wie er erwartet hatte, sondern es war die See. Sam saß neben ihm, eine Flasche Rum in der Hand und ein dickes Grinsen auf den Lippen. Das ganze Kämpfen hatte sich für ihn gelohnt.
"Willkommen auf der Dragonfly!", riefen Carrie und Frances glücklich. Jolene wurde schon fast rot und drehte sich geschmeichelt weg. Für die beiden war ein neues Mitglied der Crew ein neues Mitglied der Familie.
Die roten Segel der Dragonfly leuchteten im Licht der aufgehenden Sonne noch heller. Die Sonnenstrahlen schienen der Crew ins Gesicht und automatisch waren alle motiviert, sich in ihr nächstes Abenteuer zu stürzen. Sogar Tiger spürte, dass bald ein neues Abenteuer beginnen würde. Was auch immer es war, sie waren bereit dafür! Sie waren Piraten und fühlten tief in sich, dass das ihre Bestimmung war. Carrie und Frances wechselten vielsagende Blicke:
Genau so fühlte sich ein zuhause an.
Ende
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Die Dragonfly-Chroniken
Humor„Ladys, willkommen an Bord der Dragonfly. Fühlt euch wie zuhause!", verkündete der Braunäugige und klatschte triumphierend in die Hände. Dann sagte er an die anderen beiden gewandt: "Finn, Jake, bindet sie an den Mast." - Carrie und Frances kennen...