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𝐹𝑟𝑎𝑛𝑐𝑒𝑠

"Scheiße, wir müssen etwas tun!", übertönte ich die Schreie unserer verzweifelten Crew und die Wellen, die gegen die Dragonfly peitschten.

"Verdammt, die anderen müssen es auch wissen! Sonst springt wirklich bald einer über Bord!" Bei dem Gedanke daran erschauderte ich und sah verzweifelt Carrie, Finn und Jake an. Ihre Hilfeschreie- die Rufe der Sirenen- erfüllten immer noch das ganze Schiff und tief in mir spürte ich das Verlangen, in die See zu springen und ihnen zu helfen. Doch das wäre vollkommen sinnlos und mein Todesurteil.

"Ich gehe mit Fran, geh du mit Carrie!", rief Finn an Jake gerichtet und griff nach meiner Hand. Jake und Carrie nickten und taten dasselbe, dann rannten wir in unterschiedliche Richtungen.

Mein Freund und ich steuerten beide die Reling an, weil es dort am wahrscheinlichsten war, dass wir jemanden finden würden. Mit einer Hand umklammerte ich immer noch krampfhaft die von Finn, mit der anderen fuhr ich das Geländer entlang. Finn schien es nicht aufzufallen, wie stark ich seine Hand drückte- vermutlich, weil er meine mindestens genauso sehr festhielt. Die Schreie meiner Freunde klangen immer  unerträglicher und ab und zu hörte ich sogar Ryan und Jim, die mich von unten riefen.

Ihr Rufen wurde immer gequälter, dass ich mich am liebsten wirklich über Bord geworfen hätte, als ich vor uns im Nebel einen Schatten sah. Dieser stellte sich sofort als Ryan heraus, der sich weit über die Reling lehnte und mit Tränen in den Augen schrie:

"LILY! LILY HALTE DURCH, ICH KOMME ZU DIR!" Wir waren wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, denn Ryan trat einen Schritt zurück, um Anlauf zu nehmen und sich über das Geländer zu schwingen. Seine Hand berührte schon das dunkle Holz, als Finn ihn packte und grob zurückzog. Für einen Moment sah ihn Ryan perplex an, dann verfinsterte sich sein Blick und er regte sich lautstark bei ihm auf:

"WAS MACHST DU DA? WIR MÜSSEN VERDAMMT NOCH MAL LILY RETTEN!!!" Er wollte sich von Finn losreißen, doch nun hielt ich ihn noch zusätzlich fest:

"Ryan! Bitte beruhig dich, das sind die Sirenen!"

"Aber Lily!"

"Ryan, du hast doch Finn auch dort unten gehört, oder? Und er ist auch hier an Bord, das ist nur eine Täuschung!"

Ryans Gehirn arbeitete offensichtlich auf Hochtouren, bis seine Gesichtszüge endlich sanfter wurden und er stirnrunzelnd fragte:

"Das sind wirklich Sirenen, oder?"

"JA!", antworteten Finn und ich ihm zugleich, wobei unser genervter Unterton kaum zu überhören war.

"Und jetzt hilf uns der Crew Bescheid zu sagen, du bist immerhin hier der Captain!", bestimmte Finn. Ryan nickte langsam, dann nahm er endlich seine Beine in die Hand und lief über das Deck.

Auch für Finn und mich ging die Suche weiter: Als zweites fanden wir Jolene, die verzweifelt nach Jim rief. Sie ließ sich aber wesentlich schneller als Ryan zur Vernunft bringen und suchte auch nach den anderen. Jonah und Nino waren die nächsten. Nino hatte sich gerade über Jonah gebeugt, da diese wegen den riesigen Wellen und ihrem Holzbein zu Boden gestürzt war. Wir erklärten ihnen die Situation und sie glaubten uns, also ging unsere Suche weiter. Auf dem Weg liefen wir in Jake und Carrie, die uns stolz berichteten, dass schon fast die ganze Crew von den Sirenen Bescheid wusste.

Wir atmeten erleichtert durch, dann hörten wir Jim verzweifelt Jolenes Name rufen. Wir kämpften uns durch den Nebel zu ihm und sahen ihn am Bug der Dragonfly:

"JOLENE, HALTE DURCH!" Wir redeten schnell auf ihn ein, aber er kam einfach nicht zur Besinnung und wollte über Bord springen. Irgendwann reichte es Jake, er holte aus und verpasste ihm eine. Jims Kopf flog zur Seite, doch nun hörte er uns endlich zu.

Schließlich hatten wir alle gerettet und versammelten uns wieder um das Steuerrad des Schiffes. Die Rufe wurden allmählich leiser, wahrscheinlich verstanden die Sirenen, dass wir sie durchschaut hatten. Auch der Nebel zog auf, aber die Wellen wurden immer heftiger. Ryan hielt Lilys Hand und machte keine Anstalten, sie jemals wieder loszulassen, was diese aber offensichtlich nicht sonderlich störte.

"So, wir haben die Gefahr erkannt, aber noch lange nicht hinter uns!", gab er uns zu bedenken. "Als nächstes müssen wir-"

"Captain, was ist das da vorne?", unterbrach ihn Elias und zeigte mit seiner Hand auf die offene See.

Ich runzelte die Stirn, weil ich nicht mehr als das schäumende Salzwasser erkennen konnte. Doch einzelne Mitglieder der Crew sahen, was Elias meinte, und rannten mit ihm zur Reling. Verwirrt schaute ich ihnen dabei zu, als Sam auf einmal laut zu schreien begann:

"No, no, nooooo!" Ich war zu verwirrt, um zu reagieren, zum Glück regelte das Jolene für uns:

"Lasst euch nicht täuschen, das sind Halluzinationen! Es ist nicht echt!" Dann wandte sie sich an Jim neben ihr:

"Komm mit, ich habe eine Idee!" Und sie liefen zum Anker. Ich jedoch eilte zu Carrie, Finn und Jake, die scheinbar auch nicht mehr im Wasser sahen als die Wellen und ihre Gischt. Doch plötzlich sah ich im Augenwinkel eine Gestalt im Wasser. Es war der Körper einer wunderschönen Frau mit Fischflosse, sie schaute mich kurz böse grinsend an und verschwand dann wieder im Meer. Nach und nach sah die Crew Dinge im Wasser, die sie nahezu um den Verstand brachten. Manche von ihnen fingen an, hysterisch zu schreien, andere wiederum starrten ohne zu blinzeln in die See.

Und dann sah auch ich es. Zuerst konnte ich es in den Wellen nicht erkennen, also ging ich näher an den Rand des Schiffes und blinzelte interessiert ins Wasser. Doch nichts, was ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte, hatte mich auf das vorbereiten können, was ich jetzt sah: Mein Vater saß in einem kleinen Ruderboot, in seiner Hand eine noch rauchende Kanone. Er grinste genauso böse wie die Frau mit der Fischflosse und nickte zu den Personen, die im Wasser schwammen.

Ich riss die Augen auf und stolperte mehrere Schritte zurück. Carrie und Finn schwammen im Wasser, beide mit einer Schusswunde im Kopf. Um sie herum verfärbte sich das Wasser rot, ihre Augen waren leer und ausdruckslos. Unfähig, mich wegzudrehen, starrte ich die Leichen der zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben an - bis mich eine Hand an der Schulter griff und mich umdrehte.

"Fran, was auch immer du siehst, es ist nicht echt!", redete mir Finn ein. Seine Augen waren angsterfüllt und sein Gesichtsausdruck todernst. Ich nickte und ließ mich von ihm zu der Treppe führen, wo wir uns hinsetzten, ich meinen Kopf an seinen Oberkörper lehnte und meine Augen zukniff. Ich wollte einfach nur noch hier weg. Ich probierte, die Schreie der Crew komplett zu überhören und drückte mir meine Hände gegen die Ohren. Kalte Wassertropfen spritzten vom Meer in mein Gesicht und ich begann zu zittern.

Es sollte einfach nur noch aufhören.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, doch nach einer gefühlten Ewigkeit wurde das Meer ruhiger und die Mannschaft verlor kein Wort mehr. Ich wagte es, aufzublicken und sah, wie alle am Boden saßen und versuchten, sich zu beruhigen. Endlich war das Meer komplett ruhig. Die Gefahr war endlich gebannt. Ryan ergriff als Captain als erster die Initiative und stand auf, um die Lage zu überprüfen. Sofort atmete er erleichtert aus und deutete uns, auch aufzustehen. Ich tat wie mir geheißen und sah, gar nicht weit von uns, eine Insel. Und ich wusste, dass wir hier endlich richtig waren. Auf dieser Insel war unser Schatz versteckt.

Die Dragonfly-ChronikenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt