𝐹𝑟𝑎𝑛𝑐𝑒𝑠
"Und was jetzt?", fragte Jake und biss zufrieden in seinen Apfel. Inzwischen waren wir schon zwei Stunden auf See, vom Hafen sahen wir schon lange nichts mehr. Ich sah ihn stirnrunzelnd an:
"Ihr habt uns entführt und keine Ahnung, was ihr mit den ganzen Lösegeld machen wollt?"
Ich schaute zu Carrie. Langsam verschwand meine Aufregung von vorhin und ich konnte mich entspannen. Wir waren auf offener See und weit und breit war kein anderes Schiff zu sehen. Wir konnten uns entspannen. Zumindest fürs Erste.
"Naja", mischte sich Ryan ein. "Wir wollen die Dragonfly ein bisschen aufpeppen und vielleicht ein paar Männer anheuern."
"Und wo kriegt ihr die her?", fragte nun Carrie interessiert und kraulte Tiger hinter dem Ohr. Das hatte ich mich auch schon gefragt. Es musste doch Orte geben, wo sich Piraten versammelten um miteinander zu verhandeln. Vielleicht sogar einen eigenen Hafen?
"Wenn wir den Kurs halten, sind wir in ein paar Tagen in Plunder Bay. Dort sehen wir weiter."
"Plunder Bay?", wiederholten Carrie und ich gleichzeitig die Worte unseres Captains. Ryan und Jake grinsten sich unheilvoll an, dann antwortete Jake:
"Was das ist, seht ihr dann, wenn es soweit ist."
"Die Mädels müssen Kämpfen lernen!", rief uns Finn vom Steuerrad zu. Jakes Augenbrauen zuckten nach oben und er begann zu grinsen, als er aufstand und uns vielsagend zunickte.
"Bereit für eure erste Schwertkampfstunde?" Carrie und ich sahen uns begeistert an und nickten eifrig. Wenig später hatten wir aus einer der vielen alten Kisten zwei Schwerter herausgekramt, die wir mehr oder weniger gut führen konnten. In Plunder Bay würden wir passendere Waffen für uns beide kaufen und auch praktischere Kleidung.
Unseren restlichen ersten Tag als Piratinnen verbrachten Carrie und ich damit, abwechselnd von Finn und Jake Schwertkämpfen zu lernen. Carrie stellte sich als überraschend talentiert heraus, während ich am Anfang noch ein paar Probleme hatte. Es dauerte aber nicht lange, dann waren wir ungefähr auf dem gleichen Stand. Nachdem wir gemeinsam zu Abend gegessen hatten und den Sonnenuntergang angesehen hatten, gingen wir langsam schlafen. Es fühlte wahnsinnig gut an, zum ersten Mal in meinem Leben komplett frei zu sein. Wir konnten nun machen was wir wollten, wir hatten ein Schiff, einen süßen Hund und eine Truhe voller Gold, das förmlich danach schrie, ausgegeben zu werden. Was konnte jetzt noch schief gehen? Da fiel es mir ein:
"Was machen wir, wenn die Royal Navy nach uns sucht?", fragte ich nervös in die Stille hinein. Jake schnaubte:
"Die suchen sicher schon nach uns."
"Und was machen wir, wenn sie uns finden?", fragte nun auch Carrie mit einem leicht beunruhigten Unterton.
"Entweder kämpfen wir oder wir hauen ab. Da wir zu fünft sind und zwei von uns gerade das erste Mal ein Schwert in der Hand hatten, hauen wir eher ab.", antwortete Finn gleichgültig. Irgendwie schien keiner von den dreien beunruhigt zu sein, was mich etwas irritierte. Kannten sie die Royal Navy nicht? Und noch wichtiger: Kannten sie meinen Vater nicht? Er musste so wütend sein! Nie im Leben würde er uns einfach ziehen lassen. Ich schluckte schwer: Mir wurde gerade bewusst, dass das heute nicht meine letzte Begegnung mit meinem Vater gewesen war. In diesem Moment warf Ryan lachend ein:
"Ihr seid jetzt Piratinnen! Gewöhnt euch daran, dass ihr verfolgt werdet und dass man euch einsperren und töten will." Widerwillig nickte ich. Leider hatte der Captain recht. Ich hatte mich bewusst für dieses Leben entschieden. Außerdem wollte ich die anderen mit meiner Angst nicht nerven. Also beschloss ich, mir keine Gedanken mehr über die Navy oder meinen Vater zu machen und nickte ein.
Ich schlief so gut wie noch nie zuvor. Ich atmete die salzige Seeluft ein und genoss das Schwanken der Wellen in meiner Hängematte. Carrie und ich hatten die Freiheit gekostet. Und wir würden nie wieder genug davon bekommen.
Die nächsten Tage vergingen wie der Erste. Wir lernten weiter Schwertkämpfen, sahen dem Sonnenuntergang zu und spielten mit Tiger. Außerdem erledigten wir die unterschiedlichsten Arbeiten auf dem Schiff. Ich verstand, was die Jungs damit gemeint hatten, als sie gesagt hatten, dass sie immer Hilfe am Schiff nötig hatten. Die Dragonfly intakt zu halten und sie auch noch zu fahren war ein gewaltiger Aufwand. Ich fragte mich, wie das erst bei richtig großen Schiffen sein musste.
Bald kannten wir uns am ganzen Schiff perfekt aus und kannten den Inhalt jeder staubigen Truhe und jeder Flasche. Zu meiner freudigen Überraschung hatten wir nicht einmal so viel alkoholische Getränke an Bord, dafür aber ein paar Zigarren und Kräutermischungen, die komisch rochen.
Vier Tage später sahen wir am späten Nachmittag das erste Mal wieder Festland.
"Wir sind gleich da.", stellte Ryan vorfreudig fest. In diesem Moment kam Finn die Treppe hinunter und musterte uns nachdenklich. Dann sagte er zögerlich:
"Nehmt es mir nicht übel, aber wir betreten gleich den kriminellsten Hafen in der gesamten Karibik: Wie wär's, wenn ihr euch etwas anpasst?"
-
"Tu es.", meinte ich lachend. Carrie zögerte kurz, dann hörte ich das Schneiden der Schere knapp hinter meinem Nacken. Nur ein paar Momente später trat Carrie zurück und betrachtete stolz ihr Werk. Dann nahm sie einen Spiegel zur Hand und ich durfte mir meinen neuen schulterlangen Haarschnitt ansehen.
"Steht dir.", murmelte Finn schüchtern und ich lächelte ihn glücklich an. Als Nächstes war Carrie dran: Ich atmete kurz tief durch, dann schnitt ich die Haare in einer halbwegs geraden Linie ab. Der Schnitt stand ihr wirklich gut und wir sahen uns zufrieden an. Da kam Jake und grinste Carrie an:
"Schon fast perfekt." Sie zog eine Augenbraue nach oben, doch dann holte er stolz den Piratenhut hinter seinem Rücken hervor. Sie setzte ihn auf und Jake und ich nickten anerkennend: Jetzt war sie perfekt. Als ich mir auch mein rotes Tuch wieder um den Kopf gebunden hatte, legten wir am Hafen an.
Plunder Bay war eine wahnsinnig laute und stinkende Stadt. Ryan ging vor, offensichtlich fühlte er sich hier am wohlsten. Ich sah mich erstaunt um: Überall sah ich betrunkene Männer, Prügeleien und manchmal hörte man auch einen Pistolenschuss. Beim ersten Mal war ich noch erschrocken zusammengezuckt. Das war zum Glück nur Finn aufgefallen, der schwach gelächelt und mir einen beruhigenden Blick zugeworfen hatte. Am liebsten hätte ich mich vor Schiss hinter ihm versteckt, doch Angst war etwas, was ich an diesem Ort definitiv nicht zeigen durfte.
Als wir das Zentrum der Stadt erreicht hatten, hatte ich mich schon längst daran gewöhnt. Trotzdem lag meine Hand immer auf der Pistole an meinem Gürtel, auch wenn ich nicht einmal richtig gut schießen konnte. Zwar hatten die Piraten Carrie und mir auch das gezeigt, aber wir wollten nicht alle Kugeln für Übungszwecke verbrauchen. Außerdem war Tiger bei dem Knall fast verrückt geworden. Glücklich stellten wir fest, dass es hier auch genug Frauen gab. Zwar waren es nicht so viele, aber sie waren definitiv da. Ryan drehte sich zu uns um:
"Ich glaube, wir übernachten hier, oder?", fragte er. Carrie und ich runzelten skeptisch die Stirn, doch Jake und Finn stimmten zu, also waren wir sowieso überstimmt. Und so begann unsere erste Nacht in Plunder Bay.
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Die Dragonfly-Chroniken
Humor„Ladys, willkommen an Bord der Dragonfly. Fühlt euch wie zuhause!", verkündete der Braunäugige und klatschte triumphierend in die Hände. Dann sagte er an die anderen beiden gewandt: "Finn, Jake, bindet sie an den Mast." - Carrie und Frances kennen...