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𝐹𝑟𝑎𝑛𝑐𝑒𝑠

Am nächsten Morgen fühlte es sich an, als hätten wir kaum geschlafen. Das war ja auch der Fall. Müde blinzelte ich in die aufgehende Sonne und seufzte laut. Dann schaute ich neben mich: Finn war links und Carrie rechts von mir. Finn sah mich ziemlich zerschlagen an.

"Jetzt wäre echt Zeit für einen eurer großartigen Pläne.", stellte ich beleidigt fest.

"So einen wie das Draußen-lassen der Karte? Oder doch die Auskundschaft dieser ach so tollen Insel?", gab mir Carrie sichtbar noch angepisster zurück. Ich nickte ihr zustimmend zu und lehnte meinen Kopf gegen den Stamm der Palme. "Ihr seid wahnsinnig schlechte Piraten.", motzte Carrie weiter, worauf sie wieder meine Zustimmung bekam.

"Hey!", mischte sich Ryan ein, er war also auch schon wach. Das hätte mir eigentlich früher auffallen sollen, immerhin hörte man kein störendes Schnarchen mehr. "Wir haben es geschafft euch zu entführen!"

"Und jetzt verrecken wir hier wegen euch! Ihr seid wirklich bewundernswert.", gab ich sarkastisch zurück.

"Beruhigt euch alle! Das nützt uns jetzt nichts!", warf nun Finn ein. Carrie und ich warfen ihm giftige Blicke zu, sagten aber nichts mehr. Er hatte ja Recht. Die Sonne stieg langsam höher und mit ihr kam auch der Durst zurück. Wir mussten uns einen Plan ausdenken, wie wir hier wegkamen.

"Ich hab' eine Idee.", sagte plötzlich Jake und sofort drehten wir uns alle zu ihm um... soweit es uns eben möglich war. "Wenn wir es schaffen aufzustehen und dann alle versuchen das Seil weit auseinander zu ziehen, reißt es vielleicht."

"Oder die Knoten werden noch fester", erwiderte Finn.

"Hast du eine bessere Idee?" Finn schüttelte den Kopf.

Also war es beschlossen: Nach mehreren Versuchen hatten wir es geschafft, gemeinsam aufzustehen. Dann zogen wir alle in verschiedene Richtungen. Das Seil tat weh und schnitt tief in meinen Arm ein, sodass ich nach einiger Zeit vor Schmerz und Anstrengung nachlassen wollte, doch in diesem Moment machte es einen Ruck und es riss. Dank dem ganzen Schwung stolperte ich nach vorne und landete mit dem Gesicht im Sand.

Schnell richtete ich mich auf und sah zu den anderen, deren Gesichter genauso voller Sand waren. Carrie hustete wild und wischte sich den Dreck aus dem Gesicht, während Finn schon aufgestanden war und sich den Sand von der Hose beutelte. Ich wollte gerade auch aufstehen, da hielt er mir helfend die Hand entgegen und zog mich nach oben. Als wir fertig waren, fragte ich in die Runde:

"Und jetzt?"

"Wir müssen Wasser suchen.", stellte Finn fest. Jake nickte zustimmend und sagte:

"Und Feuerholz. Vielleicht schaffen wir es, ein großes Feuer zu machen, damit jemand auf uns aufmerksam wird."

"Das können Fran und ich suchen!", schlug Carrie vor, doch Ryan schüttelte den Kopf:

"Kommt nicht in Frage. Was, wenn ihr abhaut?"

Ich verdrehte die Augen:

"Das ist eine Insel, wo sollen wir schon hin?"

Er zuckte mit den Schultern:

"Man weiß nie."

So kam es dazu, dass Finn und ich im Wald nach einer Trinkwasserquelle suchten, während Carrie und Jake ein riesiges Feuer machten. Komischerweise hatte keiner von beiden ein großes Problem damit. Ryan zog es vor, allein die Insel zu erkunden, laut ihm könne er so "besser arbeiten". Hoffnungsvoll sah ich der weißen Rauchwolke zu, wie sie höher und höher stieg. Vielleicht hatten wir so wirklich Chancen, dass uns jemand fand.

Irgendwann hatten wir endlich die Quelle gefunden und führten die anderen zu ihr. Glücklich stillten wir dort unseren Durst und verputzen eine Ananas, die Ryan gefunden hatte. Dann gingen wir wieder an den Strand und sorgten dafür, dass das Feuer nicht ausging. Am späten Nachmittag saßen die Piraten rund um das Feuer, Carrie und ich hatten uns ein wenig abseits niedergelassen.

"Ich habe echt keinen Bock, hier jetzt acht Monate zu warten.", beschwerte ich mich und ließ meinen Kopf in den Sand fallen.

Ob mein Vater uns schon suchen ließ? Machte er sich wirklich Sorgen um mich oder ging es nur darum, meinen baldigen Ehemann nicht zu verärgern. Ich drehte mich zu Carrie: Obwohl sie nur selten darüber sprach, hatte sie es zuhause auch nicht leicht. Ihre Pflegeeltern sahen in ihr nicht mehr als eine billige Arbeitskraft. Wir hatten also beide niemanden, der uns ehrlich vermisste. Ich musste schmunzeln: All diese Probleme waren hier vollkommen irrelevant. Mein Vater und Carries Pflegeeltern war Seemeilen von uns entfernt, hier konnten sie uns nichts anhaben.

Plötzlich riss mich Ryans Ruf aus meinen Gedanken:

"Ein Schiff!"

Sofort waren Carrie und ich wieder auf den Beinen und schauten hinaus aufs Meer. Und wirklich: Ein weißes Handelsschiff fuhr geradeaus auf uns zu! Wild fuchtelten wir mit unseren Armen in der Luft herum, doch das mussten wir gar nicht. Es hatte uns schon längst entdeckt.

Wenig später kam das Beiboot und brachte uns fünf auf das Schiff. Wir stiegen auf und wurden von einer Mannschaft Matrosen begrüßt, die uns interessiert anschauten. In diesem Moment trat eine junge Frau ungefähr in unserem Alter mit feuerroten Haaren aus der Menge. Sie hatte grüne Augen und ihre Lippen formten ein mitleidsvolles Lächeln.

"Geht's euch gut? Als wir den Rauch gesehen haben sind wir so schnell gekommen wie nur möglich."

Wir nickten eifrig, Finn trat aus unserer kleinen Gruppe hervor und meinte: "Danke für Eure Rettung, ohne Euch wären wir vermutlich noch ewig auf der Insel festgesessen."

Die Frau mit den feuerroten Haaren nickte:

"Gern geschehen, ich bin übrigens Lily. Nur zwei Fragen hätte ich: Wer seid ihr und was hat euch in diese unglückliche Lage gebracht?"

Plötzlich wurde es ganz still. Die Piraten neben uns sagten kein Wort, doch ihre Gehirne schienen auf Hochtouren zu arbeiten. Jake warf uns einen bittenden Blick zu, doch ohne viel Hoffnung. Lily runzelte nachdenklich die Stirn, da platzte es auf einmal aus mir heraus:

"Wir sind Händler!" Ich wusste nicht, warum ich ihr nicht einfach sagte, dass diese Typen uns entführt hatten, doch Carrie stimmte mit ein:

"Wir wollten auf der Insel eine Pause machen, doch da überfiel uns eine gestrandete Piratenmannschaft und stahl unser Schiff." Den Piraten klappte erstaunt der Mund auf, aber sie waren wenigstens klug genug, um uns jetzt nicht zu widersprechen. Lily sah uns mitfühlend an:

"Das tut mir leid für euch. Wie auch immer, willkommen auf dem Schiff! Fühlt euch wie zuhause!"

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