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𝐶𝑎𝑟𝑟𝑖𝑒

Bolton war geflüchtet. Dieser Satz dröhnte immer und immer wieder durch meinen Kopf, als wir uns durch das Unterholz zum Strand vorarbeiteten. Ich kannte diesen fremden Mann erst seit weniger als ein paar Stunden, doch bei einer Sache war ich mir sicher. Es war unangenehm ein Gefangener von ihm zu sein. Aber nicht zu wissen wo er war, fühlte sich noch schlimmer an. Bolton machte mir Angst und ich wollte ihn nicht in der Nähe meiner Freunde wissen.

Ich warf Frances einen Seitenblick zu, als wir Seite an Seite über einen umgefallenen Baumstamm kletterten. Wir hatten beinahe jeden Abschnitt dieses Abenteuers gemeinsam durchgemacht und jetzt standen wir so kurz vor dem Ziel. Ich würde weder sie noch die ganzen anderen Freunde, die so ein wichtiger Teil meines Lebens geworden waren, aufgeben.

Noch entschlossener rannte ich durch das Gehölz, als ich endlich das Dickicht durchbrach.

Der frische Seewind schlug mir nach der stickigen Luft unter den Bäumen mit einem Schlag ins Gesicht, doch ich konnte das angenehme Gefühl auf der Haut nicht genießen. Hastig sah ich mich nach unserer Crew um und versuchte mich zu orientieren, als ich eine Hand an der Schulter spürte.

Jake zog mich vorsichtig in die richtige Richtung, den Blick besorgt auf den langen Sandstrand gerichtet. Zuerst hörten wir nur das Rauschen der Wellen und das Brummen der Insekten, doch schon nach wenigen Metern horchte Ryan auf:

"Hört ihr das auch? Das sind doch Stimmen!"

Ohne groß zu zögern nahmen wir alle die Beine in die Hand und rannten los, ich spürte wie der Sand bei jedem meiner Schritte ein wenig nachgab. Die Sonne blendete uns, doch selbst auf die Distanz konnten wir Jims hochgewachsene Gestalt erkennen, die gerade aus dem Schatten der Bäume trat.

Je näher wir kamen, desto klarer wurde uns, dass unsere Crew wohl noch mit einem blauen Auge davongekommen war.

"Sie haben es nicht besser verdient!" murmelte Sam im Vorbeigehen und drehte einen leblosen Körper um, der zu Boltons Mannschaft gehört hatte. Das Blut färbte großflächig den Sand rot, auf Zehenspitzen umging Lily diese Zeugnisse des Todes.

"Sam?! SAM! Wir brauchen dich hier!" schallte plötzlich eine Stimme von der Waldgrenze zu uns hinüber, wo Nino über eine Gestalt gebeugt auf dem Boden kniete. Der Sanitäter sprintete sofort los, doch ich war aprupt neben Fran stehengeblieben.

"Ist das...?" fragte ich leise, doch weder ich noch meine Freundin benötigte eine Antwort. Sam wischte sich die Augen, als er vorsichtig Jonahs Handgelenk losließ. Sie war tot.

Mir wurde trotz der warmen Sonne kalt und ich hatte Bauchschmerzen. Jonah hatte es nicht verdient durch die Hand dieser Männer zu sterben. Doch besonderes lange konnten meine Gedanken nicht bei der Schiffzimmerfrau bleiben, denn ein harter Stoß von der Seite ließ mich gegen Frances taumeln. Verwirrt sah ich auf und erblickte Jolene, die mit fliegenden Haaren auf ihren Bruder zurannte. Sie schien ihn erst jetzt gesehen zu haben. Jim drehte sich um und sofort erhellte sich sein blutverschmiertes Gesicht, als er seine Schwester sah.

"Jim, du Idiot! Ich dachte schon...Ich dachte schon du wärst...!" schrie sie und zog ihn in eine stürmische Umarmung, nur um sich sofort zu lösen und mit den Fäusten auf seine Brust zu trommeln. Mit einem müden Grinsen hielt er ihre Handgelenke fest und umarmte sie erneut.
Ich konnte hören wie er ihr versicherte:

"Jolene, vertrau mir. Ich lasse dich nicht allein."

Es schien mir nicht angebracht die beiden bei ihrem Zusammentreffen zu beobachten, weshalb ich meinen Blick über den Strand schweifen ließ. Dabei fiel mir ein, dass ich Tiger noch nicht gesehen hatte.

"Wo ist eigentlich der Hund?" fragte ich besorgt, woraufhin sich Frances und Jake suchend umsahen. Doch es war nicht nötig Tiger zu suchen, denn ein Bellen erweckte unsere Aufmerksamkeit. Er stand mit aufgerichteter Rute vor der Waldgrenze und bellte.

"Was ist denn los mit ihm?" fragte Finn misstrauisch und trat einen Schritt an den Hund heran, doch dann ging alles ganz schnell.

Eine Gestalt richtete sich in dem Busch auf, blutverschmiert und mit einem so hasserfülltem Blick wie noch nie.

Bolton.

Sein Arm, in dessen Hand er den Revolver hielt, war ausgestreckt und auf Ryan gerichtet. Ich konnte das Klicken hören, als er die Waffe entsicherte, und wie jemand schrie.
Und dann ertönte der Schuss.
Mit einem Knall schoss das Projektil durch die Luft und fand sein Ziel, doch es war nicht Ryan der getroffen wurde. Er und Lily lagen einen Meter entfernt im Sand, sie waren ausgewichen.

Der tödliche Schuss hatte jemand anderen erreicht.

Mit entsetztem Gesicht sah Jolene zu ihrem Bruder, der kraftlos auf die Knie gesunken war.

Bolton hatte Jim getroffen.

Ich war wie paralysiert und konnte nichts mehr hören, beinahe so als ob mich der Schuss taub gemacht hatte. Wie durch Nebel sah ich, wie sich Jake und Finn auf Bolton stürzten.
Sie pressten ihn auf den Boden und drückten ihm eine Pistole in den Nacken, dann floß Blut. Ich spürte einen warmen Blutspritzer auf meinem Gesicht, der meine Wange hinunterlief.

Der Ekel vor Bolton war das, was mich wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. Mit wenigen Schritten erreichte ich Jim, auf dessen Hemd sich ein immer größer werdender roter Fleck ausbreitete.

Jolene hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gebettet, während ihr stumm die Tränen über das Gesicht liefen. Fran kniete neben mir und griff zitternd nach seiner Hand, ich hingegen drückte verzweifelt auf die Wunde.

Innerhalb von Sekunden waren meine beiden Hände von dem Blut bedeckt, doch ich konnte einfach nicht loslassen. Ich musste es zumindest probieren. Jims Augenlider flatterten und sein Gesicht war blutleer, doch er schien uns noch nicht verlassen zu haben.

"Weißt du noch, Jim? Bei unserer ersten Begegnung? Ich habe noch nie so schöne Augen wie deine gesehen! Wenn du sie jetzt zumachst, dann sehe ich sie nie wieder! Bitte tu das nicht! Geh nicht!" Frans Stimme zitterte und sie schniefte, ihre Finger umklammerten fest Jims.

"Mach dir keine Sorgen, Fran. Wir sehen uns wieder. Wie soll ich es sonst aushalten, ohne so eine Schönheit wie dich?" antwortete Jim schwach, sein Atem ging rasselnd.

"Verdammt, JIM!" Ryans Stimme war gebrochen, er raufte sich verzweifelt die Haare und trat gegen den nächsten Baum.

"Krieg dich ein, Captain!"

"Nein, will ich nicht! Ich will das alles nicht! Ich..!"

Für einen Moment schloss Jim die Augen und stöhnte leise.

"Jim?!" fragte ich panisch, doch da öffnete er sie wieder und sah nun mich an:

"Ich geh doch nicht ohne mich zu verabschieden, Carrie. Und schon gar nicht ohne dich ein letztes Mal anzusehen."

"Du sollst gar nicht gehen!" antwortete ich und meine Finger krallten sich in sein Hemd. Er lächelte nur schwach, um sich dann mit flackerndem Blick zu Finn und Jake zu wenden:

"Ich hoffe, ihr passt für mich auf Jolene auf." Sie nickten stumm und knieten nun ebenfalls mit auf dem Boden. "Jolene..." wisperte Jim nun, seine Stimme war zunehmend schwächer geworden.

"Du lässt mich alleine." weinte sie und legte ihre Stirn an seiner Schulter ab. Sein Gesicht war schmerzerfüllt und Tränen liefen aus seinen Augenwinkeln, als er ansetzte um etwas zu sagen. Er brauchte einen Moment, dann antwortete er ihr:

"Du weißt, dass ich das nie werde. Ich bin immer da, verstehst du das? Ich bin da..."

Sein Atem war immer flacher geworden, doch wir wussten es alle.

Jim war tot.

Die Dragonfly-ChronikenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt