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𝐹𝑟𝑎𝑛𝑐𝑒𝑠

Jim war tot. Jonah war tot.

Ich konnte es nicht fassen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich in die von Jim sah. Sie waren immer so fröhlich gewesen. Sie hatten immer so gefunkelt, nun waren sie leer und kalt. Das waren nicht Jims Augen, das konnte alles nicht wahr sein.

Neben mir schluchzte Jolene. Sie umklammerte die Leiche ihres Bruders, wollte sie wahrscheinlich nie wieder loslassen. Carrie streichelte ihr unbeholfen über den Rücken. Niemand von uns sagte etwas. Wir ließen Jolene um ihren Bruder trauern und waren selbst zu sehr damit beschäftig, das Ganze zu realisieren.

Mir schoss unsere erste Begegnung durch den Kopf. Wie er mich begrüßt hatte. Wie er gekämpft hatte. Wie er sich vor ein paar Stunden noch für uns alle opfern wollte. Wie er seine Schwester geliebt hatte. Er war von Anfang an dagegen, dass sie mitkam, weil das Abenteuer zu gefährlich war. Und nun war er doch es, dessen Licht in den Augen für immer erloschen war.

Und Jonah mir ihrem Holzbein. Ich hatte sie nie danach gefragt, wie es überhaupt dazu gekommen war. Wenigstens war sie im Kampf gestorben- genau so, wie sie es wollte. Sie war gestorben, weil sie ihre Liebsten verteidigt hatte. Sie hatte den ehrenvollsten aller Tode.

"Wir sollten seine Augen schließen.", meinte Finn sanft und kniete sich zu uns hinunter. Ryan, Jake und Carrie hatten alle ihre Hüte abgenommen, um ihren Freund die letzte Ehre zu erweisen.

"Ich will es selbst machen.", schluchzte Jolene.

"Das ist gut, lass dir Zeit.", sagte ich und griff nach Finns Hand. Er jedoch hielt sie nicht nur, sondern zog mich stumm zu sich, um mich zu umarmen. Ich vergrub mein Gesicht in seinem weißen Hemd und ließ eine Träne nach der anderen über meine Wange kullern. Es tat so weh. Als ich mich wieder von ihm lösen konnte, hatte Jolene die Augen ihres Bruders schon geschlossen.

Jake hielt die Hand von Carrie, beide hatten ihre Hüte in der Hand und starrten Jims Leiche an. Lily streichelte Ryan über den Rücken, dem auch hin und wieder eine Träne über das Gesicht rann. Elias, Nino und Sam saßen abseits im Sand. Sie waren die einzigen aus unserer Crew, die uns noch geblieben waren. Wir waren die Glücklichen, die das Abenteuer überlebt hatten.

"Wir sollten sie vergraben.", flüsterte Elias.

"Nein.", sagten Jake und Finn sofort. Elias runzelte die Stirn:

"Wieso?"

"Sie waren Piraten, keine nervigen Landratten. Sie verdienen eine Seebestattung."

Wenig später lagen Jim und Jonah in einem unserer beiden Ruderboote. Sie waren eingebettet in trockenes Gras und Feuerholz, das wir im Dschungel gefunden hatten. Carrie und ich hatten noch ein paar Wildblumen dazu gelegt, die nun Jonahs Haare schmückten und rund um die beiden in dem trockenen Gras lagen. Es sah so schön und friedlich aus. Genauso, wie sie es verdienten.

Jake und Finn schoben das Beiboot durch den Sand hinaus ins Wasser. Jolene legte eine brennende Fackel in das Boot und sofort fing das Gestrüpp Feuer. Die Wellen trugen das kleine Boot davon, weg von uns, weg von dieser schrecklichen Insel. Jonah und Jim waren nun an einem besseren Ort. Stumm schwor ich mir, dass ich alles tun würde, um die beiden stolz zu machen. Auch, wenn sie es selbst nicht mehr miterleben konnten. Und so standen wir da, Jolene uns allen voran, und sahen zu, wie das rauchende Boot von uns davon trieb.

Auf Wiedersehen, Jonah und Jim.

-

Bald darauf verließen auch wir die Insel. Mit einer leichten Brise in den Segeln brachte die Dragonfly uns von hier fort. Mit den Sirenen hatten wir keine Probleme mehr, genauso wenig mit den Schwarzen Strömen. Es war fast so, als würde die See uns ihren Respekt erweisen. Für die Abenteuer, die wir durchgestanden hatten. Für die Verluste, die wir erlitten hatten.

Jolene lehnte an der Reling und sprach mit niemandem von uns. Sie musste den Schmerz zuerst verkraften, das brauchte seine Zeit. Sie wollte allein gelassen werden, also ging ich an die anderen Seite des Schiffes, wo ich die ganze andere Crew vorfand. Ryan hatte unsere Truhe in der Hand und betrachtete sie kritisch.

"Dann wollen wir mal sehen, wofür Allan, Jonah und Jim ihr Leben lassen mussten.", grummelte er. Zusammen mit Carrie ging ich interessiert nach vorne, um es besser sehen zu können.

"Die erste Prophezeiung, die vielversprechend ist.", wiederholte Finn die Worte, die Jim vor ein paar Wochen noch gesagt hatte. Carrie meinte darauf:

"Es ist unfair, dass er selbst nie erfahren durfte, was nun wirklich in der Kiste ist."

"Aber er hätte gewollt, dass wir sie aufmachen.", erwiderte Ryan und öffnete die kleine Holztruhe. Weil er die Kiste so ungünstig hielt, konnte zuerst nur er sehen, was sich darin befand. Wir sahen nur das enttäuschte Gesicht, was er darauf machte. Wütend hielt er uns unseren Schatz hin.

Es war Gold. Es war stinknormales Gold.

"Sowas hätten wir auch einfach vom nächstbesten Admiral stehlen können!", rief Carrie wütend. Und sie hatte damit Recht: Gold war gut und schön, aber wir hatten uns nach so einer Reise mehr erwartet! Wir wurden zu Geislen gemacht, haben selbst jemanden entführt, retteten unsere Freunde und wurden wieder zu Gefangenen. Jeder in dieser Crew hatte so unglaublich viel durchmachen müssen, und das für eine kleine Kiste voll Gold?

Jim hätte gewusst, was wir tun sollen. Er hatte die Kraft, diese übernatürlichen Dinge zu verstehen. Doch diese Kraft war mit ihm gestorben.

Das sah offenbar auch Ryan so, denn er knallte die Kiste wütend auf den Boden. Die Münzen kullerten auf dem Deck herum, doch niemand machte sich die Arbeit es aufzuheben.

"Irgendjemand will uns hier wohl gewaltig verarschen.", stellte Finn fest. Ich nickte beleidigt, das konnte doch alles nicht wahr sein!

"Ich hoffe, es ist wenigstens echtes Gold.", murmelte Elias und ging auf die Kiste zu. Er hob sie auf und schloss sie wieder, dann begutachtete er das Gold am Boden. "Sieht echt aus."

"Haben wir einen Fehler gemacht? Haben wir etwas falsch gemacht, und deshalb haben wir nur so wenig bekommen?", fragte Lily. Trotz der miesen Situation musste ich grinsen. Lily hatte wir gesagt, das bedeutete wohl, dass sie sich als eine von uns sah. Vielleicht hatte sie uns ja endlich verziehen.

"Halt." sagte Elias plötzlich. Seine Augen wurden groß, als er verwundert die Kiste schüttelte.

"Was machst du da?", fragte Ryan. Elias Mund klappte auf:

"Hört ihr das nicht?" Er schüttelte sie noch einmal. "Es klingt so, als wäre sie wieder voll!"

"Aber das ganze Gold liegt doch am Boden, das ist unmöglich.", meinte Sam.

"Das ist es doch!" Elias öffnete die Truhe noch einmal und ließ sie vor Schreck fast fallen. Sie war wieder voll! Elias leerte das Gold einfach auf den Boden, dann schloss er sie wieder. Nur Sekunden darauf machte er sie wieder auf und siehe da- Sie war wieder voll!

"Denkt ihr das, was ich denke?", fragte Ryan mit einem strahlenden Lächeln.

"Wenn du denkst, dass wir hier eine Kiste haben, die sich von selbst mit Gold füllt, wenn sie einmal leer ist, denken wir dasselbe.", antwortete ihm Jake, ebenfalls strahlend.

"Das heißt, dass nicht das Gold der Schatz ist, sondern die Kiste selbst?", fragte ich, worauf Jake begeistert nickte.

Und so war es auch. Nach der ganzen harten Arbeit hatten wir eine Schatztruhe ergattert, die sich von selbst füllen konnte. Die Crew brach in Jubelrufe aus. Das war die Art Schatz, die wir uns vorgestellt hatten!

Während wir uns freuten, fuhr die Dragonfly immer weiter durch das klare Wasser. Mit dem Wind in ihren roten Segeln trug sie uns durch das Meer, weit weg von diesem schrecklichen Ort. Die Dragonfly. Von Anfang an war das Schiff bei uns gewesen, hatte mit uns so viele Abenteuer überstanden. Zwei Mal hatten wir gedacht, dass wir sie für immer verloren hatten.

Doch sie war immer noch bei mir und Carrie, genau wie Ryan, Jake und Finn.

"Ich habe mich nie bei euch bedankt.", sagte ich zu Finn, der inzwischen auf der Treppe saß und in den Sonnenuntergang blinzelte.

"Für was bedankt?", fragte er verwirrt.

"Dafür, dass ihr Carrie und mich von unserem alten zuhause weggeholt habt. Zuerst dachte ich, dass ihr uns entführt habt. Aber das stimmt nicht. Ihr habt uns gerettet."

Die Dragonfly-ChronikenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt