3.4 - Isla

655 44 6
                                    

„Ich freu mich so!", ruft Arlo auf dem Nachhauseweg auf Vietnamesisch, indessen er fröhlich meine Hand schwenkt. „Das ist schön", gebe ich zurück. Ich selbst kann meine Empfindung gar nicht so richtig in Worte fassen, da ich leicht paralysiert bin, seit Juna mich angesprochen hat. Nicht so, dass es anderen Leuten unbedingt auffällt (hoffentlich – das wäre sonst ganz schön peinlich). Aber ich selbst fühle mich seither etwas benebelt. Wie, als wäre ich ein kleines bisschen high. Doch nun, wo ich an der frischen Luft und nicht mehr in der Umgebung dieser giftgrünen Augen bin, werden meine Gedanken langsam klarer und sortieren sich in meinem Kopf.

Juna hat mich angesprochen. Das hat sie wirklich, realisiere ist. Arlos glückliches Geplapper über die kommenden Nachmittage mit Silas und seiner netten Familie sind der beste Beweis.

Außerdem hat sie nicht nur mit mir geredet, sondern mir auch ihre Hilfe angeboten. Trotz ihrer kommunikativen Unbeholfenheit hat sie bemerkt, dass es mir nicht sonderlich gut geht. Statt es zu ignorieren, da ihr andere Menschen außerhalb ihrer Familie eigentlich egal zu sein scheinen, hat sie eine Lösung vorgeschlagen. Und sie hat mich ernsthaft mit zu ihr nach Hause genommen.

Klar, es war kein 'Hey ich mag dich, lass mal zu mir gehen und rummachen'-mit nach Hause nehmen (und wirklich miteinander kommuniziert haben wir auch nicht), aber immerhin. Okay, eigentlich war es überhaupt nicht intensiv, eher im Gegenteil.

Verwirrt von meinen verwirrenden Gedanken schüttel ich den Kopf. Ich sollte mich gleich mit etwas anderem beschäftigen. Am besten nehme ich den Rat von Junas bunthaarigem Bruder an und entspanne mich erst mal ein bisschen, sobald Arlo schläft. Mit einem unauffälligen Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass es bis dahin noch eine ganze Weile dauert.

Irgendwie habe ich die paar Stunden bis zum Abend doch ganz gut herumbekommen. Das Wissen, morgen einen freien Nachmittag zu haben, nimmt mir einen Teil der Last von den Schultern, weshalb ich im Allgemeinen etwas entspannter bin. Zudem bin ich ganz erleichtert, dass Arlo die ganze Sache wirklich nur positiv sieht und sich nicht irgendwie abgeschoben oder so fühlt.

„Hab ich euch gestört?", erkundige ich mich bei Cara und Gabriel, die ich per Videotelefon angerufen habe. „Nein, alles gut", lächelt der Schwarzgelockte in die Kamera. „Du störst doch nie!", ruft meine beste Freundin aus dem Hintergrund, ehe sie mit einer Schale Cashews ins Bild tritt und sich neben ihren Freund auf dem Sofa niederlässt. „Ihr seid süß", gebe ich gerührt zurück, indessen ich es mir in meiner Jogginghose auf meinem Schreibtischstuhl gemütlich mache. Das angefangene verhunzte Bild habe ich verkehrtherum auf den Boden in meine Zimmerecke gelegt, sodass ein neues, weißes Blatt vor mir liegt.

„Ihr glaubt nicht, was heute passiert ist", fange ich an, wobei ich meinen Laptop aufklappe und mein Handy an die Seite des Bildschirms lehne. „Was denn?", harken meine beiden besten Freunde wie aus einem Mund nach. Ich schenke ihnen ein schelmisches Zwinkern, dann öffne ich meinen Ordner mit Inspirationsbilder von Harry Styles, die ich irgendwann mal abgespeichert habe. „Isla!", murrt Cara, als ich nicht sofort weiterspreche. Gabe lacht. Seine Freundin war schon immer die ungeduldigere von den beiden.

„Auf dem Weg zum Abholen von der Kita ist mir irgendwie ein bisschen schwindelig geworden, weshalb ich die Augen zugemacht habe und kurz stehen geblieben bin. Und ratet mal, wer prompt in mich reingelaufen ist!" „Harry Styles!", ruft Gabriel. „Professor Rotnase!", schreit Cara gleichzeitig, nur viel lauter. Ich pruste los. Professor Rotnase ist ein (offensichtlich rotnasiger) Seminarleiter, der uns zu Beginn unseres Studiums mit seinen Weisheiten beglückt hat, bis er gegen Ende des ersten Semesters ohne Erklärung von einem Kollegen ersetzt wurde. Seither hat ihn niemand mehr gesehen, weshalb die wildesten Gerüchte um seine Person ranken. Vom Agenten über Drogenschmuggler bis zum Ausbrecher aus der Gesellschaft, der jetzt auf einer einsamen Insel in der Karibik lebt, ist alles dabei. Meine Freunde und ich benutzen ihn eher als Running Gag für den Eintritt eines unfassbar unrealistischen Ereignisses. Trotzdem sind diese vielen Verschwörungstheorien über sein Verschwinden natürlich amüsant und unterhaltend.

„Keiner von beiden", stelle ich klar, nachdem ich mich beruhigt habe. „Schade", seufzt Cara, die ein kleines bisschen faszinierter von dem 'Geheimnis Rotnase' ist als ihr Freund und ich. „Ich würde so gern wissen, ob er wirklich den Safe des Dekan ausgeraubt hat und dann mit einem Hubschrauber vom Dach geflohen ist!" Richtig, diese Theorie gab es auch noch. Dabei weiß ich gar nicht, ob der Dekan überhaupt einen Safe hat – oder was da so besonderes drin sein sollte. Aber egal.

„Ratet weiter", grinse ich. Dabei klicke ich mich durch die Fotos, um an einem hängen zu bleiben, welches ich schon immer mal umsetzen wollte. Allerdings mit Aquarell- und nicht mit Acrylfarben. Und da ich für Aquarell in der richtigen Stimmung sein muss, habe ich es noch nie gemacht. Entschlossen drücke ich auf den Vollbildmodus, bevor ich meinen Farbkasten heraus krame. Dabei lausche ich Caras und Gabriels Vorschlägen zu dem ominösen Fremden, der auf dem Bürgersteig mit mir kollidiert ist. Dabei stellen sie so unrealistische Theorien auf ('Donald Trump auf der Flucht vor den Sicherheitsmenschen des Weißen Hauses, weil er sich gegen die Amtsübergabe geweigert hat' 'Quatsch, bestimmt war es Bill Gates mit seinem Lieblingsgeldkoffer' 'Das glaubst du ja wohl selbst nicht, ich bin mir sicher, dass es Lady Gaga war'), dass ich mich irgendwann räuspere.

„Es war unsere hübsche grünäugige Kommilitonin", spreche ich in die wohltuende Stille. „WAS?", schreit Cara. „Hat sie dich geschlagen? Oh Gott, bist du verletzt? Soll ich sie anzeigen? Oder nein, Gabe und ich fahren zu ihr und hauen sie zurück! Weißt du, wo sie wohnt? Gabe, komm, hol deine Jacke..."

„CARA!" Ich schlage mir die Hand vor den Mund und lausche eine Sekunde, ob ich Arlo geweckt habe. Doch zu meinem endlosen Glück bleibt alles ruhig. Erleichtert atme ich aus und werfe einen Blick auf mein Handydisplay, um zu sehen, wie die beiden sich vor Lachen auf ihrem Sofa kringeln.

„Sie hat mir nicht wehgetan, aber ich weiß trotzdem, wo sie wohnt." „Wie bitte?" Sofort fällt meinen Freunden das Lachen aus dem Gesicht. „Ich glaube, ich verstehe nicht ganz. Kannst du das bitte deutlich erklären?", bittet Gabriel mich verdutzt. „Na gut", seufze ich gespielt, wobei ich ein Grinsen unterdrücke. Seelenruhig beginne ich mit der Bleistiftskizze und fange erst nach ein paar Strichen an, meinen Freunden jede einzelne Sekunde des Nachmittags genau zu erläutern.

adore youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt