6.3 - Isla

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Als ich das nächste Mal die Augen öffne, geht es mir schon ein bisschen besser. Ich lasse meinen Blick zur Seite schweifen, halb in der Erwartung, dass Juna nicht mehr da ist. Doch meine Kommilitonin sitzt nach wie vor auf meinem Schreibtischstuhl. Ihre Augen sind nach unten gerichtet und nach kurzer Zeit fällt mir auf, dass sie liest. Ich wende den Kopf ein bisschen mehr, um herauszufinden, welches Buch sie in den Händen hält und reiße die Augen auf, als ich ein kunterbuntes Bild auf dem Cover entdecke. Der Hauptcharakter dieses Buches ist schwul und verliebt sich in einen Typen von seiner Uni, indessen auch allerlei politische Dinge angesprochen werden. Auch die restlichen Freunde des Ich-Erzählers sind queer. Mich fasziniert gleichermaßen, dass sie sich ein Buch aus meinem Regal geholt hat, sowie dass ihre Wahl auf genau dieses Buch gefallen ist. Immerhin habe ich auch ein paar klassische Hetero-Bücher.

Juna scheint meine Bewegung gehört zu haben, denn sie hebt ihr Kinn, um mir direkt in die Augen zu blicken. Ihre Miene ist lange nicht so abweisend wie gewohnt, als sie mich ruhig fragt, wie es mir geht. „Besser", antworte ich leise. „Wie spät ist es?" Sie wirft einen Blick auf ihr Handy. „Halb eins", antwortet sie mir. „Hunger?" Ich höre kurz in mich hinein. „Ein bisschen vielleicht... Ich hab glaube ich Nudeln da", nuschle ich, da es mir unangenehm ist, sie indirekt darum zu bitten, mir etwas zu kochen.

Juna lächelt ein kleines bisschen, weshalb ich sie überrascht anstarre. Sie sieht noch wundervoller aus als sonst, obwohl ich der Meinung war, dass dies nicht mehr möglich ist. Verdammt, ich klinge wirklich mehr als verknallt. „Magst du klare Gemüsesuppe?", erkundigt sie sich. „Ähm... ja?", formuliere ich meine Antwort eher als Frage. „Gut." Die Grünäugige steht auf und sieht sich suchend um. „Nimm dir einfach irgendwas vom Schreibtisch... falls du ein Lesezeichen suchst", weise ich sie leicht lächelnd an. „Okay", murmelt sie dankbar. Nachdem sie das Buch wieder auf dem Stuhl abgelegt hat, verschwindet sie aus meinem Zimmer. Ich lasse meinen Kopf wieder auf mein Kissen sinken und frage mich, wo sie jetzt die Suppe hernehmen will. Ich bin mir nämlich zu hundert Prozent sicher, dass ich so etwas nicht im Haus habe.

Fünf Minuten später kommt sie wieder und schlägt erneut die Decke an meinem Fußende zurück. „Suppe wird grad warm. Miss noch mal Fieber", bittet sie mich, indessen sie mit den mittlerweile warmen Waschlappen verschwindet, um kurze Zeit später wiederzukommen. Erneut spüre ich die kühlen Wadenwickel an meinen Unterschenkeln. „Achtunddreißig einhalb", informiere ich sie, nachdem das Thermometer gepiept hat. Sie nickt und schaut mir in die Augen. Ich erwidere ihren Blick vorsichtig lächelnd, ohne etwas zu sagen. Langsam schwindet meine Angst, dass ich all das doch nur träume und sie mit einem Puff verschwindet.

„Ist leider fertig gekauft und nicht selbstgemacht", entschuldigt sich Juna, nachdem sie mir beim Aufsetzen geholfen hat und mir nun einen Teller mit dampfender Suppe reicht. Ich schüttel fassungslos den Kopf. „Das ist doch vollkommen egal. Ich finde es schon so unfassbar nett von dir, dass du überhaupt hier bist... und dich um mich kümmerst. Und für mich einkaufst und so. Du musst mir noch sagen, was du dafür bekommst, dann überweise ich dir das", sprudle ich hervor, um dadurch meine Rührung zu kaschieren. Meine Kommilitonin wendet ihren Blick verlegen von mir ab. „Ne, lass mal", nuschelt sie. Ich beiße mir auf die Unterlippe und nehme mir vor, sie mal zum Essen einzuladen, wenn ich wieder gesund bin. Ob sie zusagt, ist natürlich eine andere Sache.

„Du hast ganz schön viel gut bei mir", gebe ich deshalb nur zurück. Sie zuckt mit den Schultern, indessen sie mich immer noch nicht anschaut. Stattdessen ist ihr Blick auf das bunte Buch in ihren Händen gerichtet. „Ich hoffe, es ist okay, dass ich mir das einfach genommen habe", flüstert sie schon fast. „Natürlich!", lache ich leicht. „Gefällt es dir?", füge ich dann leiser hinzu. Juna hebt nun ihren Kopf, um mich zurückhaltend anzulächeln. „Ja", murmelt sie. Nervös tippt sie mit ihren Fingern immer wieder auf ihr Bein. „Es... gibt nicht so viele queere Bücher, zumindenfalls..." Sie bricht ab und wird ein wenig rot. Ich würde sie am liebsten in den Arm nehmen.

„Alles gut", wispere ich stattdessen beruhigend. „Wenns dir schwer fällt, musst du auch nicht mit mir reden", versichere ich ihr. Junas Blick schießt zu mir. Mit ihren wundervollen grünen Augen, die vor Überraschung ein bisschen geweitet sind, starrt sie mich an. „Das... danke", macht sie rau, ehe sie sich räuspert. Meine Kommilitonin atmet einmal tief durch, wobei sie nach wie vor auf ihren Oberschenkel trommelt. „Das bedeutet mir sehr viel", flüstert sie. „Was ich sagen wollte", fährt sie etwas lauter fort, ohne, dass ich auf ihr Geständnis reagieren kann. „Da es nicht so viele queere, bekannte Bücher gibt, freue, ähm, ich mich immer, wenn ich neue ent-entdecke", erklärt sie. Ich lächle sie aufmunternd an, da ich das Gefühl habe, dass sie zumindest mir gegenüber immer besser reden kann. „Das freut mich. Ich habe noch ein paar mehr von der gleichen Autorin, die kannst du auch gern lesen", biete ich ihr mit einem Kopfnicken zum Regal an.

Ihr freudiges klitzekleines Lächeln kann ich nicht genießen, da mein Kopf aufgrund der Bewegung wieder zu Pochen beginnt. Automatisch lasse ich meine Augen zufallen und lehne mich nach hinten. Mit einem Mal möchte ich nur noch schlafen, doch auf meinem Schoß steht noch immer die erst halb geleerte Suppe. „Kopfschmerzen?", will Juna wissen, weshalb ich leise ein „Ja" herauspresse. In der Pubertät hatte ich immer mal wieder Migräne und das ekelhafte Ziehen hinter meiner Stirn erinnert mich sehr gut an den Schmerz damals.

„Du kannst gleich wieder schlafen, aber willst du noch ein bisschen was essen?", erklingt die leise Stimme meiner Kommilitonin. Mühsam öffne ich meine Lider wieder und versuche, sie zu fokussieren. „Wär vielleicht nicht schlecht", stimme ich zu und beginne erneut, diesmal langsamer, Löffel für Löffel die Suppe in mich aufzunehmen. Mein Hunger ist mir zwar deutlich vergangen, doch allein, weil Juna sich so viel Mühe gegeben hat, will ich den Teller leeren.

Kurz nachdem ich das geschafft habe, schlafe ich erneut ein. Erst ein leises, wiederkehrendes „Isla" weckt mich auf. Als ich meine Augen schließlich öffne, fällt mir auf, dass es schon recht dunkel in meinem Zimmer ist. Es muss also schon Abend sein. „Tut mir leid", flüstert Juna mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck. „Ich... ich muss jetzt nur los und wollte fragen, ob du noch was brauchst. Und... ob ich Klamotten für Arlo mitnehmen kann?" Sie blickt unsicher auf mich herab. „Ähh...", mache ich verschlafen. „Warte, warum willst du Sachen für Arlo mitnehmen?", frage ich dann nach. „Weil er bei uns schläft. Keine Widerrede." Juna lächelt mich leicht an. „Oh", mache ich nicht besonders geistreich, da mir außer aber nichts einfällt.

Nachdem Juna mich zum Bad und wieder zurückbegleitet, mir neue Wadenwickel gemacht und alles, was ich in der Nacht brauchen könnte, an mein Bett gestellt hat, steht sie erneut neben dem Bett. „Ich lasse mein Handy an, also ruf an, wenn... was ist", erklärt sie mir. Wieder taucht die Frage in meinem Kopf auf, warum zum Teufel sie all das für mich macht, doch ich kann nur nicken, weil ich von ihren hübschen Augen gefangen bin. „Okay. Schlaf gut", murmelt sie, bevor sie mir noch ein weiteres ihrer kleinen scheuen Lächeln schenkt und dann mein Zimmer verlässt. Wenig später höre ich die Haustür ins Schloss fallen. Ich starre das kunterbunte Buch auf dem Stuhl neben meinem Bett an und frage mich, ob ich vielleicht doch den ganzen Tag nur einen Fiebertraum hatte und alles wieder wie vorher ist, wenn ich morgen aufwache. Doch bevor ich mir noch weiter den Kopf zermartern kann, drifte ich langsam in den Schlaf ab.

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