1.1 - Isla

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„Das ist nicht dein Ernst." Unfähig, mich zu bewegen, starre ich meine Mutter an. „Doch, voll und ganz." Ungerührt schnappt sie sich ihre Handtasche. Scheinbar hält sie das Gespräch für beendet. „Und du konntest mich nicht früher darüber unterrichten?" Fassungslos beobachte ich sie dabei, wie sie sich an mir vorbei in den Flur schiebt. „Ach, du hättest dich doch nur unnötig gestresst!", ruft sie mir über die Schulter zu. „Eher nötig, ich hab keinen Plan, wie ich das alles schaffen soll!" „Das machst du schon! Ich schicke dir auch mal Geld, wenn ich dran denke. Und jetzt verabschiede dich brav von mir, meine Süße. Oder willst du, dass ich deine Launen als letztes in Erinnerung habe?"

„Das ist mir egal", nuschle ich. Langsam gehe ich ein paar Schritte rückwärts. „Ich bin so enttäuscht von dir." Damit drehe ich mich um und gehe zurück in mein Zimmer. Während ich mich auf meinen Teppich fallen lasse, höre ich, wie meine Wohnungstür ins Schloss fällt. Damit ist meine Mutter wohl weg. Auf und davon, in die USA, mit einem alten, reichen, weißen Sack. Und da ein fünfjähriger Sohn dabei stört, hat sie ihn kurzzeitig bei mir abgeladen. Der Halbschwester. Der 22-jährigen Studentin, die in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung wohnt.

„Isla?" Arlo lässt sich neben mich fallen und kuschelt sich vorsichtig an mich. „Warum liegst du aufm Boden?" Ich lege seufzend einen Arm um ihn. „Weil ich es mag." Ich bin nicht in der Stimmung, mich für irgendetwas rechtfertigen zu müssen. Außerdem kann mich eh keiner mehr dafür verurteilen, was ich meinem kleinen Bruder vorlebe. Ich bin jetzt diejenige, die ihn erzieht. Ich bin für ihn verantwortlich. Scheiße.

Noch vor zwei Stunden war mein Leben das gewohnte. Ich war in dem kleinen süßen Café arbeiten, so wie ich es immer mal wieder nach der Uni mache. Nichts ahnend, dass sich mein Leben noch am gleichen Tag so drastisch ändern würde, bin ich dann nach Hause geradelt. Genau, als ich mich mit meinem Kaffee aufs Sofa chillen und Musik hören wollte, hat es geklingelt. Ich dachte, dass es schon eine Überraschung war, meine Mutter vor der Tür stehen zu haben, doch darin hatte ich mich gewaltig geirrt.

Das Kinderbett und der Kleiderschrank würden angeblich morgen geliefert werden, den Rest von Arlos Sachen hat sie mir einfach in den Flur gestellt. Nicht einmal mehr ausräumen konnte sie mir helfen, da sie zum Flughafen musste.

„Isla. Ich hab Hunger", reißt mich die leise Stimme meines Bruders aus den Gedanken. Ich habe keine Ahnung, was Kinder essen dürfen oder wollen und was nicht. Wie viel essen sie? Und wie oft? „Was isst du abends immer, Spatz?" „Abendbrot!", ruft er wenig hilfreich. „Ist das warm oder kalt?", versuche ich es erneut. „Kalt natürlich. Oder willst du die Brote warm machen?" Er setzt sich auf, um mich mit seinen dunkelbraunen Augen fragend anzuschauen. „Ach so, nein. Ich wusste nur nicht... manche Leute essen ja abends auch Nudeln oder sowas", rede ich mich heraus. Mist, weiß ich mehr Gerichte als Nudeln und Tiefkühlpizza? Kann ich ihn mit in die Mensa nehmen?

„Aber sowas isst man doch mittags in der Kita!", wundert er sich. „Ah, wann hat dich Mama immer abgeholt?" „Nach dem Schläfchen, aber jetzt bin ich ja schon groß und brauche kein Schläfchen mehr!" „Das Schläfchen war nach dem Mittagessen, oder?", harke ich nach. Das klingt für mich nach 14 oder 15 Uhr. Mein Bruder nickt, dann seufzt er leise. „Kommt Mama noch mal zurück oder bleibt sie für immer hinterm Meer?", will er mit traurigen Augen wissen. Ich setze mich ebenfalls auf, um ihn in den Arm nehmen zu können. „Das weiß ich nicht, Spatz. Aber wir zwei machen es uns einfach ganz schön, ja? Jetzt essen wir erstmal was und dann packen wir noch ein bisschen deine Sachen aus. Morgen früh bringe ich dich dann in die neue Kita, die Mama für dich rausgesucht hat", lächle ich.

„Glaubst du, die sind nett da? Oder... sagen sie wieder was zu meinen kleinen Augen?" Ich streiche einmal über seinen Kopf. Arlo hat mehr von dem asiatischen Aussehen unserer Mutter geerbt als ich. Meine dunkelbraunen Augen haben eher eine europäische Form, aber meine Haare sind schwarz – zumindest die ungefärbte obere Schicht. „Bestimmt sind sie nett. Und wenn nicht, dann sagst du mir bescheid, ja? Wollen wir abmachen, dass wir immer ganz ehrlich miteinander sind?", schlage ich vor. Mein Bruder lächelt. „Abgemacht", nickt er, ehe er aufsteht. Ich mache, dass ich hinter ihm herkomme.

Glücklicherweise ist Arlo mit der Auswahl an zwei verschiedenen Käsesorten zufrieden. Trotzdem muss ich meinen Kühlschrank ab jetzt für einen zweiten Esser wappnen. Ich möchte ja auch, dass er gesund aufwächst, also sollte ich mich selbst auch definitiv von etwas anderem ernähren als Nudeln, Tiefkühlpizza, Ramen, Tütensuppen und Kaffee. Mist. Ich mochte meinen studentischen Lifestyle.

Nach dem Essen bereiten wir Arlo ein Schlaflager auf meiner Couch. Recht schnell ist er dann auch schon müde. Verstohlen blicke ich auf meine Uhr, um festzustellen, wann Schlafenszeit für ihn ist. Es ist viertel nach acht. Also werde ich die folgenden Tage wohl acht Uhr anpeilen. Hoffentlich wacht er nicht um sechs auf. Die Kita öffnet wohl um acht, bis neun sollten die Kinder da sein, denn dann beginnt der Morgenkreis. Nicht nur meine Essgewohnheiten, sondern auch meinen Schlafrhythmus werde ich also umstellen müssen.

Nachdem ich im Wohnzimmer das Licht gelöscht habe, räume ich noch etwas auf, ehe ich mich in mein Zimmer begebe. Während ich meine Malutensilien auspacke, rufe ich meinen Vater per Video-Anruf an. Glücklicherweise ist die Zeitverschiebung nach Neuseeland einfach zu rechnen, da sie einfach 12h beträgt. Ich müsste ihn also gerade beim Frühstück erwischen.

„Isla!", freut er sich. Tatsächlich steht eine Müslischüssel halb im Bild. „Hey Dad", begrüße ich ihn lächelnd. „Language?", will er wissen. „Deutsch heute, bitte." Zwar bin ich quasi dreisprachig aufgewachsen, sodass ich nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch und Vietnamesisch fließend spreche, doch da in meinem Alltag Deutsch überwiegt, ist dies für mich besonders an anstrengenden Tagen für mich am einfachsten. Da mein Vater nur zur Hälfte Neuseeländer ist, stellt das glücklicherweise kein Problem für ihn dar.

„Was ist los? Du siehst erschöpft aus, meine Kleine." Ich seufze, indessen ich nach einem prüfenden Blick auf mein angefangenes Bild Farben auf meiner großen Glasscherbe mische. (Natürlich habe ich die Kanten abgeschliffen, bevor ich sie als Mischpalette umfunktioniert habe.) Durch das Malen komme ich etwas herunter, sodass es mir leichter fällt, von meiner Mutter und ihrem absolut unverständlichem Verhalten zu erzählen.

„Holy shit, was soll das denn? Ich meine, wir wissen beide, dass sie nicht sehr umsichtig bezüglich ihrer Mitmenschen ist, aber so ein Move ist dann auch für sie ganz schön krass. Ich überweise dir ab nächsten Monat mehr Geld, ja? Und wenn es schon vorher knapp wird, sagst du bitte Bescheid." Er sieht mich ernst an, verschüttet dabei aber fast seinen Kaffee, weshalb ich lächeln muss. Diese Sucht habe ich definitiv von ihm geerbt.

„Du bist nicht mal Arlos Vater. Aber ich sag trotzdem nicht nein der Höflichkeit halber, du kennst mich, ich bin da ganz unbefangen." Mein Dad lacht leise. „Ehrlichkeit ist immer das wichtigste im Leben, Kleine." Er steht auf, um sein Geschirr wegzuräumen. Grinsend stelle ich fest, dass ich genau das Arlo mitgeben möchte, womit ich schon heute angefangen habe. Vielleicht bin ich nicht die schlechteste Ersatz-Mama.

Zusammen regen wir uns noch kurz über meine Mutter auf, bis er zur Arbeit muss. Seufzend male ich weiter, bis es halb elf ist. Nachdem ich mir einen Wecker gestellt habe, schreibe ich noch in die Gruppe mit meinen zwei besten Freunden. Ich habe euch morgen einiges zu erzählen. Ihr werdet es nicht erraten können. 

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