5.1 - Isla

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„Arlo! Wir müssen wirklich los!" Ich stecke den Kopf in sein Zimmer, da er trotz mehrmaligem Rufen einfach nicht heraus kommt. Mein kleiner Bruder steht mit einem mürrischen Blick vor seiner Kommode, weshalb ich mir gestresst durch die Haare raufe. Jetzt ist definitiv keine Zeit für Ankleide-Theater.

„Bitte, zieh dir einfach eine Hose an", seufze ich. „Aber es ist so warm! Guck doch, wie die Sonne scheint!", beschwert er sich. Fehlt nur noch, dass er mit einem Fuß aufstampft. „Ich habs gesehen, aber deshalb sind es ja nicht gleich hochsommerliche Temperaturen", gebe ich zurück. „Du kannst gern nur ein T-Shirt und für den Weg einen Pulli anziehen, aber eine lange Hose muss trotzdem sein, ja? Es ist wirklich noch nicht sooo warm."

„Aber nur, wenn ich die grüne Hose anziehen darf!" Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. „Die ist noch nicht ganz trocken, das habe ich dir doch schon vorhin gesagt. Guck mal hier, die graue ist doch fast die gleiche." Arlo sieht die dünne Hose, die ich aus einer Schublade gezogen habe, kritisch an, zieht sie dann jedoch genervt an. Ich atme erleichtert auf. „Danke, mein Kleiner. Und jetzt los, sonst kommen wir zu spät zum Morgenkreis", lächele ich, indessen ich ihn in den Flur scheuche.

Eine Viertelstunde später trete ich gerade wieder aus dem Törchen heraus, als mir Kian mit Silas an der Hand entgegen kommen. „Hey, Isla!", grüßen mich beide gleichzeitig, weshalb ich stehen bleibe und sie anlächle. „Hey, na ihr beiden", gebe ich zurück. Etwas seltsam ist die Situation schon, denn abgesehen von den paar Malen, wo ich Arlo bei Junas Familie abgeholt habe, habe ich nicht mehr mit Kian gesprochen. Der Abend mit dem Glitzer ist jetzt auch schon zwei Wochen her. Seitdem habe ich mich mit niemanden aus der Familie länger unterhalten.

Zu meinem Leidwesen auch nicht mit Juna. Nach wie vor ignoriert sie mich mehr oder weniger in der Uni wie alle anderen Studenten auch. Treffe ich sie an der Kita oder bei ihr zu Hause, spricht sie nur so wenig wie möglich mit mir. Langsam habe ich auch das letzte Fünkchen Hoffnung, dass ich sie zumindest doch ein bisschen besser kennenlerne, aufgegeben.

Zudem rückt so langsam auch die Klausurenphase in Sichtweite, weshalb ich weiterhin alle Hände voll zutun habe, auch, wenn Arlo zwei Nachmittage in der Woche bei Juna ist. So komme ich eher selten dazu, deshalb irgendwie geknickt zu sein. Übermäßig gut gelaunt bin ich allerdings auch nicht.

„Alles klar?", will Kian locker wissen. „Ja, sicher. Bei euch?" Ich frage absichtlich nicht nur nach ihm, auch wenn mir eigentlich klar ist, dass er mir niemals von sich aus erzählen wird, was seine Stiefschwester so macht. „Auch alles gut", gibt er zurück. Silas zieht ungeduldig an seiner Hand. „Kiaaaan, der Morgenkreis!" Sein großer Halbbruder lacht auf. Lustigerweise ist sein Lachen trotz seiner unfassbar tiefen Stimme eher hoch, weshalb es ziemlich niedlich klingt. „Ich muss dann wohl mal", entschuldigt er sich schulterzuckend. „Kein Ding", gebe ich, zugegebenermaßen etwas erleichtert, zurück. „Schönes Wochenende und bis spätestens Dienstag!", ruft er mir noch zu, indessen Silas ihn in Richtung Kita weiterzieht. „Euch auch", antworte ich noch, dann mache ich mich auf den Weg zurück nach Hause.

„Gabs! Cara!", schreie ich quer über den Vorplatz des Hörsaalgebäudes. Dabei ist es mir egal, dass sich unsere Kommilitonen zu mir umdrehen, um mich genervt, ablehnend oder belustigt anzublicken. Natürlich kommt der zuletzt genannte Gesichtsausdruck am seltensten vor, weshalb ich wieder einmal die Augen über die Ernsthaftigkeit der Erwachsenen, sogar der Studenten, verdrehen könnte. Doch ich hebe mir meine Energie und meine Gedanken lieber für schöne Dinge auf.

Wie zum Beispiel für die schwungvolle Umarmung meiner beiden besten Freunde. „Hayy", freut sich Cara und wirft ihre ewig langen und wieder einmal perfekt glatten Haare gekonnt über ihre Schulter, nachdem sie mich losgelassen hat. „Schicke Nägel", findet ihr Freund, weshalb ich meine beiden Hände hochhalte und meine Daumen überkreuze. „Danke", grinse ich. Einem eher neu erschienenen Bild von Harry Styles nachempfunden (wie sollte es auch anders sein) trage ich abwechselnd pinken und gelben Nagellack. Zwar passt das Pink nicht ganz zu dem Rot auf meinem weißen Fine-Line-Shirt, doch das ist mir insofern egal, dass es ja beides Harry-related ist und demnach doch zusammen passt.

„Ey, ich hab dir doch vor paar Wochen diesen Künstler mit den mega guten Texten gezeigt", beginnt Gabriel erneut. „Ja...?", mache ich fragend, indessen ich mein Gesicht zur Sonne drehe. Ein bisschen kann ich Arlo verstehen. Mittlerweile ist es Ende Mai und wirklich eher warm. „Der hat auf Insta ne EP angekündigt! Vorher wurden immer nur einzelne Singles rausgebracht, deshalb bin ich voll aufgeregt!", erzählt mein bester Freund. „Du kleiner Fanboy", lache ich leise. Gabs schmollt gespielt, ehe er mit dem Daumen auf mein Shirt zeigt. „Das musst du grade sagen!" Ich nicke, nach wie vor grinsend. „Touché."

„Auf jeden Fall wurde schon das Cover veröffentlicht und ich finde das so cool, dass ich es mir am liebsten aufhängen würde. Oder wenns da Merch von geben würde, würd ich den safe kaufen", plappert er weiter begeistert vor sich hin. Ich werfe Cara einen Blick zu, welche ihren Freund ebenso wie ich ziemlich niedlich zu finden scheint. „Das Cover ist wirklich cool", wispert sie mir dann aber ins Ohr. „Du musst ihn jetzt eh danach fragen." Sie wirft mir ein verschwörerisches Grinsen zu, weshalb ich ein Kichern zu unterdrücken versuche.

„Was ist denn auf dem Cover?", frage ich den Dunkelgelockten möglichst interessiert. Sofort breitet sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus, wobei er sein Handy zückt. „Hier, guck! Ich habs als Sperrbildschirm eingerichtet", zeigt er mir stolz. „Wow, das Fanboy-Level ist echt hoch", grinse ich ihn an, nehme ihm jedoch das Handy aus der Hand, um mir das Bild genauer anzugucken. Ich muss sagen, ich finde es ebenfalls ziemlich gut. Wie es zu erwarten war, ist es recht politisch. Die Quintessenz dabei ist wohl, das es viel erfüllender ist, zum offenen, bunten Teil der Gesellschaft zu gehören, der niemanden diskriminiert, als zu der grauen Masse.

„Du hast doch Harry auch als Hintergrund", gibt Gabriel zurück. „Stimmt, aber nur im Homebildschirm. Im Sperrbildschirm hab ich Arlo", rechtfertige ich mich. „Leute, jetzt streitet euch doch nicht darum, wer mehr Fangirl oder -boy ist", lacht Cara. Ich stimme leicht mit ein, indessen ich einen Arm um ihre Schultern lege. „Hast ja recht. Und außerdem ist das Cover wirklich cool, ich kanns schon verstehen, dass du den Künstler feierst", beruhige ich Gabriel.

„Siehst du", grinst er zufrieden und steckt sein Smartphone nach einem Blick auf die Uhrzeit wieder ein. „Och ne, wir müssen langsam rein", grummelt er, weshalb wir uns inmitten des Rests der Studentenmasse zum Hörsaal schieben. „Ich bin übrigens so aufgeregt wegen der Filme, in denen Harry jetzt spielt", schwärme ich dabei. „Oh, kann ich verstehen! Wir müssen die dann sofort zusammen gucken, wenn sie rauskommen", stimmt Cara mit ein. „Find ich auch! Loggen wir uns dann wieder über VPN ins amerikanische Netflix ein, um den sofort sehen zu können?", zwinkert Gabriel uns zu. Wir müssen alle drei lachen. „Was man nicht alles als Fan macht", gluckse ich, überglücklich, dass meine Freunde meine Sucht zumindest ein wenig teilen. Wenn sie natürlich auch nicht ganz so stark ausgeprägt ist wie bei mir. 

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