5.5 - Juna

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, wandern meine Gedanken als erstes zu Meadow. Warum auch immer das der Fall ist. Zumindest fällt mir auf, dass ich ihr das Bild mit dem Glitzer auf unserer aller Wangen noch nicht geschickt habe, weshalb ich es heraus suche. Bevor ich auf senden drücke, bin ich dann doch ein bisschen nervös. Ich bin mir unsicher, ob ich noch etwas dazu schreiben muss. Ich bin mir unsicher, ob ich erwarte, dass sie antwortet, und wenn ja, was genau ich erwarte. Sie könnte sich nur bedanken, ein Gespräch anfangen oder auch gar nicht zurück schreiben. Irgendwie bin ich mit keiner der Möglichkeiten besonders zufrieden. Allerdings kommt auch nicht in Frage, ihr das Foto nicht zu schicken, da ich sie irgendwie nicht enttäuschen will.

Seufzend wechsle ich, ohne etwas abgeschickt zu haben, in den Chat mit Kian. Bist du wach?, tippe ich ein. Eigentlich hatte ich nicht vor, so bald mit ihm zu reden, aber irgendwie verwirrt es mich, ständig über sie nachzudenken. Dass sie mich unsicher macht, nervt mich auch ziemlich. Zwar ist das bei jedem Menschen außerhalb meiner Familie der Fall, doch ich würde ihr aus irgend einem Grund gern gefasster und ruhiger gegenübertreten.

Kian antwortet nicht, weshalb ich ein Blick auf die Uhrzeit werfe. Tatsächlich ist es erst kurz nach acht, was ziemlich früh dafür ist, dass der Abend gestern noch ganz schön lang war. Somit entschließe ich mich, laufen zu gehen. Kurz denke ich darüber nach, meinen Vater zu fragen, ob er mitkommen möchte. Immerhin trainieren wir eigentlich immer zusammen. Jedoch bin ich ziemlich sicher, dass außer mir und vielleicht noch Silas niemand in diesem Haus wach ist.

Die Morgenluft ist für Mitte Mai schon recht warm, weshalb ich froh bin, eine kurze Hose angezogen zu haben. Mit jedem Schritt fühle ich mich ein klein wenig freier. Joggen lässt mich unfassbar gut abschalten. Ich atme tief den erdigen Geruch ein, als ich ein kleines Wäldchen durchquere. Der Gesang der Vögel zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht.

Als meine Lunge und meine Beine nach einer knappen Stunde zu brennen beginnen, genieße ich diesen leichten Schmerz schon fast, denn er lässt mich lebendig fühlen. Etwas, was mir nicht allzu oft passiert, da ich mich in der Gegenwart anderer Menschen möglichst zurückziehe. So komme ich mir eher vor wie die ruhige Tiefen den Ozeans als wie eine sprudelnde Quelle.

Als ich frisch geduscht und im Gammellook die Küche betrete, scheint der Rest meiner Familie es ebenfalls aus den Federn geschafft zu haben. „Juna!", begrüßt mich Vivica als erste, dann folgen auch die anderen. Ich lasse ein allgemeines „Guten Morgen" fallen, bevor ich mir eine Müslischüssel hole. „Wieso bist du jetzt erst unten?", erkundigt sich Kian fragend. Ich werfe ihm einen Blick zu, der hoffentlich Später sagt, und Papa lacht leise. „Warum sollte sie nicht mal ein bisschen länger schlafen?", fragt er rhetorisch. Glücklicherweise zuckt mein bester Freund nur mit den Schultern. Er scheint verstanden zu haben, dass ich mit ihm allein sprechen möchte.

Leider kommen wir so bald nicht dazu, denn zuerst braucht Vivi von Kian Hilfe bei ihren Englisch-Hausaufgaben, dann fällt Keanu auf, dass er nächste Woche eine Mathe-Klausur schreibt, weshalb er dringend mit mir lernen möchte. Da meine kleine Schwester und mein bester Freund den Küchentisch belagern, lassen wir uns im Zimmer meines bunthaarigen Bruders nieder. Es war schon immer so, dass ich unsere kleinen Geschwister eher im mathematisch-naturwissenschaftlichen und Kian im sprachlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich unterstützt. So hocke ich fast bis zum Mittagessen mit Keanu über seinen Übungsaufgaben.

Papa und Silas haben gekocht, wobei mein kleiner Bruder wahrscheinlich vorwiegend mit den Beinen baumelnd auf der Arbeitsplatte saß und fröhlich vor sich hingeplappert hat. Vor einer Minute ist er zu uns ins Zimmer gewuselt gekommen, um zu berichten, dass das Essen jetzt fertig sei. Glücklicherweise meint Keanu auch, alles verstanden zu haben, weshalb ich nach dem Mittagessen hoffentlich die Chance habe, mit Kian reden zu können. So sehr ich meine große chaotische Familie liebe, machmal kann es ganz schön anstrengend sein, dass man selten eine Minute für sich hat.

„Wollen wir nachher schwimmen gehen, Juna?", schlägt Papa vor, als wir nach dem Essen den Tisch wieder abräumen. Silas und Vivi sind längst wieder davon gesaust und auch Keanu hat sich, eine Ausrede nuschelnd, verzogen. Manchmal frage ich mich, was er den ganzen Tag in seinem Zimmer macht. Wahrscheinlich zocken.

„Können wir machen", nicke ich, da ich mich trotz des Laufens heute Morgen ziemlich energiegeladen fühle. „Super. So gegen vier vielleicht? Nachher bekomme ich nämlich noch Besuch", erwähnt er beiläufig, weshalb ich nur wissend nicke. Kian grinst und zuckt mit den Augenbrauen, woraufhin mein Vater ihn mit einem Geschirrhandtuch abwirft. „Ist doch nicht meine Schuld, dass mein Sexleben spannender ist als das von euch, obwohl ihr Anfang zwanzig seid", zieht er uns lachend auf. „Hallo? Ich bin sechsundzwanzig", beschwert mein bester Freund sich grinsend. „Ist mir egal, ihr seid jedenfalls noch junge Hüpfer", blödelt mein Vater, wobei er wieder einmal sein Lausbuben-Lächeln aufsetzt, welches ihn selbst nicht älter als siebzehn aussehen lässt.

Kopfschüttelnd schnappe ich mir Kians Pulliärmel, um ihn aus der Küche zu ziehen. „Wir gehen ein bisschen ins Studio", rufe ich Papa über die Schulter noch zu, dann machen wir uns genau dorthin auf den Weg.

Anstatt direkt den Rechner anzuschalten, lässt sich Kian auf die Sitzfläche eines ehemaligen Sofas fallen, welche in der Ecke auf dem Boden liegt. Mit einer Hand klopft er neben sich. „Was gibt's?", will er wissen, sobald ich mich ebenfalls hingesetzt habe. Ich seufze. „Mhm", brumme ich, unsicher, wie ich mein Problem formulieren soll.

„Ich bin ja nicht so gut mit fremden Menschen", beginne ich also. „Ach was, wirklich?", harkt mein bester Freund ironisch nach, was mich die Augen verdrehen lässt. „Wirklich", bestätige ich trotzdem. „Und eigentlich hab ich mich daran gewöhnt, aber jetzt verzweifle ich fast daran, weil ich... jemanden irgendwie kennenlernen will. Oder so." Ich beiße mir unsicher auf meine Unterlippe, als Kian mich nachdenklich betrachtet. „Isla, oder?", fragt er behutsam nach. Ich seufze ein weiteres Mal, dann nicke ich und lasse meine Kopf auf seine Schulter fallen.

„Sie hat mich gestern nach meiner Nummer gefragt", erzähle ich leise. „Das ist doch toll", findet Kian. Ich höre, dass er lächelt. „Hm. Aber sie will, dass ich ihr das Bild von dem Glitzer-Abend schicke", füge ich hinzu. „Und du weißt nicht genau, wie du das anstellen sollst", erkennt mein bester Freund nun das Problem. Ich nicke, erleichtert darüber, dass er mich so gut kennt und ich nicht all die komischen Details meiner Zweifel vor ihm ausbreiten muss.

„Wie wärs mit: Hier ist das Bild, war ein netter Abend?", schlägt er nach einem kurzen Moment Stille vor. Ich schnaube. „Vor allem, weil wir da kaum miteinander geredet haben", antworte ich ihm ironisch. „Willst du überhaupt noch was dazu schreiben?", erkundigt sich Kian, ohne auf meine nicht besonders gute Laune einzugehen. „Keine Ahnung", brumme ich und beginne, am Loch in meiner Jogginghose herum zu pulen. „Ich weiß ja nicht mal, ob ich will, dass sie mir antwortet", füge ich leiser hinzu. „Ich hasse es, dass ich so verdammt unsicher in ihrer Umgebung bin." Kian richtet sich auf, um mich anschauen zu können.

„Kann es sein, dass du Isla magst?"

adore youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt