1.2 - Isla

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Am Morgen weckt mich Arlo natürlich schon, bevor mein Wecker klingelt. So begrenzt sich mein Schlaf auf vielleicht knappe sechs Stunden, da ich gestern natürlich nicht sofort einschlafen konnte. Zu viele Sorgen sind mir durch den Kopf geschossen. Als allererstes mache ich mir einen Kaffee, denn anders kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Mein Bruder hüpft trotz der frühen Stunde munter durch meine schmale Küche, sodass ich Angst habe, dass er sich irgendwo stößt. Ich frage mich, was meine Mutter ihm erzählt hat, dass er das Geschehen so gut wegsteckt.

„Warum sind deine Haare eigentlich bunt?", fragt er mich nun auf vietnamesisch. Ich antworte ihm, dass ich sie mir eben färbe, während ich mir eine mentale Notiz mache, ihn ebenfalls dreisprachig zu erziehen. Glücklicherweise scheinen die Grundlagen schon gelegt zu sein und so verwende ich den ganzen Morgen über kein Wort Deutsch. Zumindest nicht, bis ich mit ihm an der Hand ein paar Meter von der Kita entfernt bin. „So, wir sind bald da", erkläre ich ihm. „Oh, schau mal, das große Klettergerüst!", ruft er einen Augenblick später. Lächelnd trete ich mit ihm durch die kleine Pforte.

„Ach hallo, Sie müssen die Schwester von Arlo sein", lächelt eine Schwarze Frau. Ich nicke ihr zu, bevor ich mich zu meinem Bruder herunterbeuge. „Ich bespreche noch ein paar Sachen, dann gehe ich, ja? Ich hole dich nach dem Mittagessen ab. Hab dich lieb, Spatz." Arlo drückt mir einen schnellen Kuss auf die Wange, ehe er neugierig auf die anderen Kinder zugeht. Einen Augenblick lang bin ich froh, dass er nicht mehr ganz so jung ist und schon etwas Selbstvertrauen und Erfahrung im Umgang mit Gleichaltrigen hat.

„Bongi", stellt sie sich mit einem freundlichen Lächeln vor. „Isla, freut mich." „Sie kümmern sich also jetzt um Ihren kleinen Bruder, ja?" Ich lächle halbherzig. „Bitte duzen Sie mich doch. Und ja, ich versuche es zumindest. Soweit das von heut auf morgen eben möglich ist." „Für mich gilt das gleiche. Nun, Arlo wurde doch schon vor Wochen hier angemeldet", wundert sich die Erzieherin. Ich zucke mit den Schultern. „Meine Mutter hat ihn mir gestern mit der Information vorbeigebracht und ist dann direkt in die USA geflogen", erkläre ich leise. „Wow", erwidert Bongi. „Wenn du Fragen hast oder so... kannst du uns immer gern kontaktieren", bietet sie an. Ich lächle dankbar.

Nachdem ich noch ein paar organisatorische Dinge abgesprochen habe, mache ich mich wieder auf den Weg nach Hause. Das Ganze hat doch etwas länger gedauert als gedacht, weshalb ich ziemlich direkt meinen Uni-Kram zusammensuchen und mich auf mein Fahrrad schwingen muss.

Vor dem Hörsaal treffe ich meine zwei besten Freunde. Cara und Gabriel sind zwar schon seit dem ersten Semester ein Paar, lassen mich jedoch nie wie das dritte Rad am Wagen fühlen. Auch heute winkt Gabriel mir ausgelassen zu, da er mich als erstes entdeckt hat. „Huhu!", ruft nun auch Cara über die anderen Studenten hinweg.

Erleichtert umarme ich die beiden. Sie geben mir immer ein bisschen das Gefühl von Zuhause. „Na, was hast du denn jetzt für spannende Infos? Hast du Harry Styles getroffen?", zwinkert Gabriel, während wir zu dritt den Hörsaal betreten. „Leider nein", gebe ich grinsend zurück. Die beiden wissen von meiner Liebe zu dem Sänger, die ebenso stark ist wie meine Kaffeesucht. „Du hast das heiße Girl angesprochen", rät nun Cara. Augenverdrehend schüttel ich den Kopf, kann es aber nicht lassen, meine Augen auf der Suche nach ihr kurz durch den Raum huschen zu lassen. Sie scheint noch nicht da zu sein, allerdings ist es sowieso typisch für sie, zu spät zu kommen. „Du hast entkoffeinierten Kaffee getrunken und er schmeckte gar nicht mal so scheiße", startet Cara einen weiteren Versuch.

„Es hat tatsächlich nichts mit meinen Süchten zu tun", lache ich nun. Gleich darauf wird mein Gesicht ernst. „Meine Mutter hat Arlo bei mir abgeladen und ist mit ihrem reichen alten Sack in die USA gezogen", erkläre ich leiser. „Wa-was?", macht Gabriel verwundert. „Hab ich das richtig verstanden?", versichert er sich. „Du kümmerst dich jetzt um ihn? So richtig?" Ich nicke neutral, obwohl es süß ist, wie Gabriel sich selbst mal wieder damit aufzieht, dass er nicht muttersprachlich deutsch ist. Scheinbar findet Cara das auch, denn sie wuschelt ihrem Freund einmal liebevoll durch seine schwarzen Löckchen.

„Holy moly", macht sie dabei leise. „Wenn du Hilfe brauchst oder so, sag uns Bescheid", fügt Gabriel lächelnd an. „Das ist lieb, aber ihr arbeitet so viel, ich schaff das schon... irgendwie", seufze ich. „Wir sind trotzdem für dich da!", flüstert Cara, da die Vorlesung nun begonnen hat. Dankbar lächle ich den beiden zu. Ich bin mehr als froh, dass die beiden Schätze meine Freunde sind.

Zehn Minuten nachdem der Professor begonnen hat, äußerst hochgestochen über das politische Verständnis in der Antike zu sprechen, betritt eine schmale Gestalt den Hörsaal. Schluckend beobachte ist sie aus dem Augenwinkel. Obwohl sie relativ klein ist (natürlich bin ich immer noch kleiner als sie, ich bin einfach ein Zwerg), hat sie eine riesige Ausstrahlung. Das hängt eventuell mit ihren schwarzen Klamotten, ihren Tattoos oder ihren vielen silbernen Ketten, vielleicht aber auch einfach mit ihrem dauerhaft abweisendem Gesichtsausdruck und ihren giftgrünen Augen zusammen. Trotzdem ist sie für mich der attraktivste Mensch auf der Erde, möglicherweise auch gerade weil sie so mysteriös ist und keiner etwas über sie weiß. Zusätzlich stellt sie ihre atemberaubende Figur immer mal wieder mit Croptops, ihren hübschen Hintern umschmeichelnde Sweatpants und BH-ähnlichen Oberteilen zur Schau. Dies wirkt allerdings keinesfalls billig, da sie diese Outfits offensichtlich nicht dazu nutzt, um Leute abzuschleppen – zumindest sieht man sie immerzu nur alleine.

Heute trägt sie eine schwarze Adidas-Hose, die am Bein locker und am Hintern anliegend ist. Ein schwarzer Hoodie mit einem seltsamen verschlungenen Print (der deutlich oversized ist) verbirgt mir die Sicht auf ihren Oberkörper. „Muss ich nen Sabbertuch unters Kinn halten?", raunt Cara mir zu, weshalb ich beleidigt den Blick von der Schönheit abwende. „Lass sie doch starren, vielleicht wird sie dann irgendwann mal von ihr bemerkt", grinst Gabriel ebenso leise. „Seid einfach leise", motze ich, kann mir aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. Immerhin geben mir die Blicke der anderen Studenten die Sicherheit, dass ich nicht als einzige der seltsamen Anziehung unserer Kommilitonin unterlegen bin.

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