4.1 - Juna

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Der Freitagmorgen beginnt wie jeder andere Wochentag, doch mir ist mehr als bewusst, dass ich nachher zwei Jungs von der Kita abhole sowie heute Abend Meadow wiedersehe. Letzteres macht mich ein wenig nervös, da ich nach wie vor ziemlichen Schiss vor einer Konversation mit ihr habe. Das liegt sicherlich nicht speziell an ihr, ich habe das Problem ja mit jedem Fremden. Trotzdem betritt sie damit, dass sie zu mir nach Hause kommt, meinen safe space, in dem ich normalerweise ganz ungezwungen bin. Meine Familie ist der einzige Ort, an dem ich mich hundertprozentig wohl fühle. Dass Isla in diesen Raum eintritt, stresst mich irgendwie, obwohl ich es ihr ja selbst angeboten habe.

Da ich früh genug aufgewacht bin, mache ich mich rasch fertig, ehe ich nach unten zum Frühstücken gehe. Mein Vater und meine Geschwister begrüßen mich freudig, was mich zum Lächeln bringt. Papa drückt mir auf dem Weg zur Kaffeemaschine einen Kuss auf die Schläfe. „Morgen, meine Große", murmelt er mir zu. „Morgen", gebe ich zurück, bevor ich mich neben Silas Tripp Trapp beuge. „Guten Morgen, Kleiner", wünsche ich ihm und drücke einen Kuss auf seine Wange. Genauso verfahre ich bei Vivica und Keanu, wobei letzterer nur grinsend den Kopf schüttelt. „Wann checkst du, dass ich aus dem Alter raus bin?", will er wissen. „Gar nicht. Meine kleinen Geschwister werden ihr Leben lang einen Guten-Morgen-Kuss von mir bekommen", antworte ich fest. „Aber ich bin größer als du", meckert mein bunthaariger Bruder, wobei er ein Lächeln versteckt. Eigentlich macht es ihm nämlich nichts aus.

Gerade, als ich mich hingesetzt habe und anfange, mit den Zutaten auf dem Tisch mein Müsli zusammenzuschütten, betritt Kian die Küche. „Morgen allerseits", lächelt er in die Runde, bevor er sich einen Kaffee einschenkt. Zwischen dem allgemeinen Krähen als Antwort der anderen werfe ich meinem besten Freund nur ein Lächeln zu, welches er warm erwidert.

„Ich kann Silas gern zu Kita bringen, hab eh um neun ne halbe Schicht im Supermarkt", bietet er mir einen Augenblick später an. „Du holst dann die beiden ja schon ab." Ich nicke zustimmend. „Gern." „So, Schulkinder müssen Zähne putzen gehen!", ruft Papa im gleichen Moment. „Warum seid ihr eigentlich noch nicht weg?", wundert Kian sich. „Wir haben beide zur zweiten heute", grinst sein Halbbruder ihm zu, welcher auf dem Weg durch Kians ausgewaschene blaue Haare wuschelt. „Ey", brummt der ältere nur, lässt jedoch beide Hände um seine Tasse geschlungen.

Ein paar Minuten später rumpeln Keanu und Vivi auch schon aus dem Haus. „So, jetzt machen wir beide uns auch mal fertig", lächelt Kian meinem jüngsten Bruder zu, welcher sogar bereitwillig aufsteht und ihm voraus hochgeht. Dass Kian ihm morgens beim Anziehen, Kämmen und Zähneputzen hilft, kommt nicht allzu häufig vor, weshalb es für Silas immer ein besonderes Ereignis ist.

„Na", lächelt Papa, der gerade wieder in die Küche kommt. Verwundert schaue ich auf, da ich im allgemeinen Tumult gar nicht mitbekommen habe, dass er weg war. Als ich jedoch die Liste in seiner Hand sehe, weiß ich, dass er in seinem Zimmer war, um eben diese zu holen. Grinsend deute ich mit dem Kinn auf die Zettel. „Willst du mir so unbedingt von gestern erzählen?", necke ich ihn. „Vielleicht?" Mein Vater lächelt für einen Moment verlegen, dann fängt er sich wieder. „Ich dachte einfach, wir können es schnell erledigen, wenn wir grad allein sind." Ich nicke wissend, indessen ich weiter mein Müsli löffel.

„Hast du..." „Wir sind dann weg!", unterbricht Kians Stimme mich. Als ich aufblicke und seinen Kopf im Türspalt sehe, nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, wie mein Vater die Zettel unter dem Tisch hält. „Alles klar! Bis später!", erwidert er freundlich. Mein bester Freund winkt mir noch zu, ehe er wieder vollständig in den Flur verschwindet.

„So", macht Papa, wobei er die Zettel wieder ans Tageslicht befördert. „Hast du 'n Stift?" Ich kratze meine Schüssel aus, ehe ich sie beiseite schiebe, um die Liste zu mir zu ziehen. „Hier." Papa hält mir einen Kuli hin. „Also. Jax hieß er, ne?" Er nickt lächelnd. „Küsse?" „Mhm. Ne neun? Oder ne zehn", überlegt er mit einem verträumten Gesichtsausdruck. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Es kommt so gut wie nie vor, dass Punkte über acht verteilt werden. Noch seltener ist allerdings (und damit meine ich, dass es wirklich nie vorkommt), dass Papa einen so glücklich-sanften Gesichtsausdruck bei der Erinnerung an einen vergangenen Abend draufhat.

Es stellt sich heraus, dass Jax in allen Kategorien zumindest eine acht war. Außerdem verwirrt mich die liebevolle Art, mit der mein Vater von seinem gestrigen Besucher spricht, mehr als ich es zeige. Würde ich ihn nicht so gut kennen, würde ich fast denken, er sei auf dem besten Weg, sich zu verlieben. Doch da ich genau weiß, dass Papa jegliche Vermutung sofort verhärmt abstreiten würde, schweige ich.

„Und du, Junchen? Ich hab lange nichts neues aus deinem Liebesleben gehört", lenkt er schließlich das Thema auf mich, indessen er sich bequem zurücklehnt. Ich zucke mit den Schultern. „Wahrscheinlich, weil es lange nichts Neues gab", gebe ich zurück, weil es stimmt. „Ach, das ist doch schade. Findest du denn niemanden zumindest hübsch? Dein Studiengang ist doch ganz schön groß." Er lächelt mich lieb an, weshalb ich mein Seufzen unterdrücke. „Natürlich gibt es ein paar hübsche Mädels an der Uni, aber... Ich kenn die ja alle nicht. Und ich werde sie auch nicht kennenlernen, also..." Ich lasse den Satz in der Luft hängen.

„Ach, Maus. Warum gehst du nicht mal feiern? Du kannst doch nicht ewig darauf warten, dass dich jemand anspricht und es dann sogar noch drei Mal versucht, weil du sie bei den ersten Versuchen auf deine freundliche Art abgewiesen hast." Mein Vater macht einen mitfühlenden Gesichtsausdruck, weil er genau weiß, wie schwer mir sowas fallen würde. „Ich will nicht allein gehen", murmel ich. „Warum gehst du nicht mit Kian in nen Queer-Club? Oder mit mir?" Papa grinst und wackelt dabei mit den Augenbrauen, weshalb ich ungewollt lache. „Um zu sehen, wie du irgendwen angräbst? Nein danke", wiegel ich amüsiert ab, indessen ich ihm leicht auf den Arm schlage. Papa grinst noch mehr, dann lachen wir beide richtig.

„Stell dir vor, wir beide im Club... hihihi", keucht er schließlich mit Tränen in den Augen. Ich schüttel lachend den Kopf, unfähig, was zu sagen. Das Bild in meinem Kopf ist einfach zu kurios.

„Na gut, dann halt nicht. Aber... irgendwas wirds doch wohl für dich geben. Gibts nicht irgendwelche Partys von der Uni aus?" Ich habe mich ebenfalls wieder beruhigt, weshalb ich jetzt die Augen verdrehe. „Ich will eigentlich gar nicht auf ne Party. Ich hab kein Bock, den ganzen Abend alle möglichen Leute abweisen zu müssen, nur um dann irgendwann betrunken genug zu sein, dass ich zulasse, dass mir irgendnen Mädel ihre Jägermeisterzunge in den Hals steckt", erkläre ich ablehnend. Papa verdreht ebenfalls die Augen. „Anders lernst du aber niemanden kennen, weil du immer gleich alle schlägst", brummt er. „Stimmt nicht. Manchen zeige ich auch nen Mittelfinger", rechtfertige ich mich. „Wow, dir ist echt nicht mehr zu helfen." Er schüttelt den Kopf und steht auf, um den Tisch abzuräumen.

„Ich kann doch nichts dafür. Guck mal, ich hab schon mega Schiss vor heut Abend, weil ich vielleicht ein paar Worte mit M... Isla wechseln muss", erkläre ich leise. „Ach, meine Große. Davor brauchst du doch keine Angst zu haben." Papa kommt zu mir, um mich kurz ungelenkt über die Stuhllehne zu umarmen. „Mir schien sie eine ganz offene und freundliche junge Frau zu sein. Vielleicht verstehst du dich ja sogar ganz gut mit ihr, wenn das Eis erstmal gebrochen ist. Hm?" Ich stehe auf, um ihm zu helfen und die Spülmaschine einzuräumen. „Mal sehen", mache ich zweifelnd. Nicht, weil ich denke, dass ich mich nicht mit Isla verstehen könnte, sondern eher, weil ich meine sozialen Fähigkeiten zu recht ziemlich anzweifle. 

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